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Deutsches Seminar Standreden

Urs Herzog: Der vom Tode erlösete Mißethäter

Vorwort

Von Leonie Rohner und Livia Merz

Hinrichtungen galten lange – und gelten teilweise noch immer – als gerechte Strafe für die schwersten Verbrechen. Auch in der Schweiz war die Vorstellung, dass man Kriminalität mittels Exekutionen unterbinden kann, bis ins späte 19. Jahrhundert verbreitet und im Rechtssystem fest verankert. Neben der Abschreckung der Zuschauenden stand auch die sittliche Besserung des Delinquenten im Fokus dieser Bestrafungspraxis. In den Tagen vor der Hinrichtung wurden viele Verbrecher deshalb von Geistlichen begleitet. Ein solcher Begleitungsprozess lässt sich sowohl im katholischen als auch im protestantischen Kontext beobachten. Begründet war dieser in der christlichen Vorstellung, dass ein seliger Tod trotz sündigen Verhaltens erreicht werden konnte, wenn die eigenen Sünden erkannt und bereut wurden. Meist endete er mit dem öffentlichen Vortragen einer sogenannten Standrede durch den begleitenden Pfarrer nach vollzogener Hinrichtung. Dem Publikum wurde damit nochmals vor Augen geführt, welcher Vergehen sich die Delinquenten schuldig gemacht hatten und welche Erklärungen sich für das lasterhafte Verhalten finden liessen. Oft wurde eine schlechte, unchristliche Erziehung als Grund angeführt. Das Gebet für die Erlösung des „armen Sünders“ war ebenfalls ein fester Bestand solcher Reden. Viele Standreden wurden von städtischen Buchdruckern publiziert und nach dem öffentlichen Vortragen verkauft, teilweise um mit dem erwirtschafteten Geld das Wohl der Hinterbliebenen zu sichern. Somit fungierten sie auch als Medium zur Verbreitung christlicher Auffassungen einer sittlichen Lebensweise. Ferner diente die Predigt dazu, die eben geschehene Hinrichtung vor dem Publikum als angemessene Strafe zu legitimieren. Diese zwei Aspekte zeigen die enge Verwobenheit der weltlichen und kirchlichen Kräfte, welche dieser Praxis inhärent war. Die Standreden bieten einen Einblick in geistliche und juristische Prozesse von der frühen Neuzeit bis zur Abschaffung der Todesstrafe sowie in damals vorherrschende Moral- und Gerechtigkeitsvorstellungen.

Der umfangreiche Bestand dieser Quellengattung ist in der Forschung zur Hinrichtungspraxis im deutschsprachigen Raum weitgehend unbeachtet geblieben. Prof. em. Dr. Urs Herzog (1942-2015) hat nach seiner Emeritierung intensiv an einem Projekt zum Thema gearbeitet und zusätzlich zu den Standreden weitere Materialien zum ganzen Kontext der Urteils- und Hinrichtungspraxis gesammelt. In diesem Zusammenhang sollte ein Buch entstehen, wovon der Beginn des ersten Kapitels in seinem Nachlass zu finden ist. Mit Referenzen auf eine Vielzahl verschiedener Quellen rekonstruiert Urs Herzog in diesem den möglichen Weg eines Delinquenten vom Urteil bis zur Richtstätte. Im Zentrum steht die geistliche Betreuung des Verbrechers als Vorbereitungsprozess auf das Leben nach dem Tod. Darin involviert waren neben den begleitenden Geistlichen unter anderem der Gefängniswächter, Angehörige des Delinquenten, der Scharfrichter sowie Überbringer von Spenden für die Henkersmahlzeit. Herzog unterstreicht des Weiteren die Bedeutung des Stadttors als zugleich räumlich und symbolisch trennendes Element zwischen der Stadt als Lebens- und Rechtsraum und der unbewohnten, wilden Umgebung, in der sich die Richtstätte befand. Der Text endet, bevor die Hinrichtung und die darauf folgende Standrede thematisiert werden. Diese Ausführungen waren für spätere Kapitel vorgesehen. Nichtsdestotrotz liefert dieser Einstieg interessante Denkanstösse sowie Hinweise auf zentrale Quellen zur Thematik und regt damit zu weiterführenden Forschungen an.

Bild: Enthauptung auf dem «Rabenstein» beim Galgenplatz. Flugblatt über eine Hinrichtung am 29.5.1789 in Zittau. München, Amira-Archiv.

Bild: Enthauptung auf dem «Rabenstein» beim Galgenplatz. Flugblatt über eine Hinrichtung am 29.5.1789 in Zittau. München, Amira-Archiv.

Anfang einer geplanten Publikation aus den Jahren 2004/2005

Hinweis: Die Anmerkungen beziehen sich auf die Literaturangaben (Quellen, Sekundärliteratur), die in einem neuen Fenster geöffnet werden, um einen bequemen Zugriff zu ermöglichen.

Ist das Todesurteil gesprochen, hat die Hinrichtung spätestens in drei Tagen stattzufinden. Nicht Wochen oder Monate später, um die Qual des Wartens in Grenzen zu halten – drei tag danach erst, damit der Verklagte zu rechter zeit sein sünd bebedenken, beklagen vnd beichten möge, vnd so er des heyligen Sacraments zu empfahen begert, das soll man jm on wegerung zu reichen schuldig sein. Anm. 1 Für einen flüchtigen Lebensrest soll der Delinquent, nun armer Sünder, auch armer Mensch geheissen, aus seinem bisherigen Verlies, einem finsteren Gestankloch Anm. 2 bis weit ins 18. Jahrhundert, an einen leidlicheren Ort gebracht werden. Dort, in Städten meist eine heizbare, taghelle Stube des Rathauses, stehen ihm, von Rechts wegen verordnet, zwei Seelsorger bei. Im Wortlaut der kaiserlichen Halsgerichtsordnung des Jahres 1532 sind es personen, die den Armen zu guten seligen dingen vermanen Anm. 3 möchten.

Anm. 1 Carolina, Art. 79.
Anm. 2 Meyer, Maleficanten-Schul, S. 227.
Anm. 3 Carolina, Art. 79.

Indem diese Justiz über Leib und Leben blutig richtet, nicht ohne ineins auch die Sorge um das Heil der Seele anzuordnen, stellt sie in ihrem weltlich-kirchlichen Doppelwesen sich vor. Das Sterben des Maleficanten will vorbereitet sein, mit allen Mitteln christlicher Sterbekunst (Ars moriendi) präpariert Anm.4, in Gespräch und Gebet, mit Belehrung (Unterrichtung), Mahnung und Trost, vor allem und zuhöchst mit den sakramentalen Mitteln der Busse und der Eucharistie. Mit Nachdruck ist die Geistlichkeit beauftragt, den armen Sünder in seiner Not als Sünder zu umsorgen, ihn zu der lieb gottes, rechtem glauben vnd vertrawen zu Gott vnd dem verdienst Christi vnsers Seligmachers, auch zu berewung seiner sünd (zu) vermanen Anm. 5.

Anm. 4 Vgl. Art. Theologie (pastoral), in: Zedler 43, Sp. 948.
Anm. 5 Friedrich Georg, Markgraf zu Brandenburg: Peinliche Halszgerichts-Ordnung, Art. 125.

Vier Jahrhunderte danach ist der Auftrag unverändert der alte. Die Prediger sollen den zum Tode Verurteilten zur Bekehrung und Bereitung auf die Ewigkeit anleiten und ermuntern (anlässlich der Hinrichtung eines Mordbrenners im Jahre 1827). Anm. 6 Die Verfügung der weltlichen Obrigkeit geht ein in die evangelischen Kirchen- und Predigerordnungen (Von der Vermahnung und Tröstung derer zum Todte verurtheilten) Anm. 7, in die Hinrichtungs-Zeremoniale und kehrt in Urteilsformularen wieder mit der Bestimmung, daß sie (eine Kindsmörderin), nachdem sie in Sachen ihres Heils unterrichtet seyn werde, mit dem Schwerdt solle hingerichtet werden Anm. 8 (Bern, 1827). Die einschlägige Berner Prediger-Ordnung von 1824 (Art. 18. Von den Pflichten der Prediger bey Maleficanten) schreibt vor:

Je kürzer diese Frist ist [sc. die Zeit, die Galgenfrist bis zur Exekution], desto mehr soll der hiermit beauftragte Prediger sich angelegen seyn lassen, durch einen täglich fortgesetzten, der Fassungskraft und dem Gemüthszustande der Delinquenten angepaßten Unterricht, sie zur Erkenntniß ihrer Sünden, zur ernsten Reue vor Gott, und zur willigen Ergebung in ihr selbst verschuldetes Schicksal zu führen. Anm. 9

Anm. 6 Hinrichtung eines Mordbrenners, unpag. Vgl. auch Fischer, Standrede bey der Hinrichtung des Mordbrenners, S. 3.
Anm. 7 Art. Kirchen-Ordnung, in: Zedler 15, Sp. 749.
Anm. 8 Geschichte, Verbrechen und Todesurtheil einer Kindsmörderin, unpag. Vgl. auch Howald, Standrede bey der Enthauptung der Kindesmörderin Anna Barbara Liechti.
Anm. 9 Prediger-Ordnung, Art. 18, S. 33.

Die ihn zu guten seligen dingen anleiten, sollen dem Gefangenen, so bemerkt die »Carolina« umgehend, in dem außfüren [unterwegs zur Richtstätte] vnd sunst nit zuuil zu trincken geben dardurch sein vernunfft gemindert werde. Anm. 10 Diese Warnung bezieht sich auf die alte freundliche Sitte, dem armen Menschen 'zur Labung seines betrübten Geistes mit guter und oftmals bester Kost und einem Trunck Wein aufzuwarten'. Anm. 11 Derart möchte sich das kirchliche Bemühen um das Heil der Seele mit der leiblichen und psychischen Fürsorge verschwistern. Der folgende wunder-seltsame Casus, im Eingang zur »Künstlichen Unordnung« (1670) des Matthias Abele zu finden, feiert solche Eintracht spät und transitorisch genug. Ueber Nacht wird der Leib dem Richter, die unsterbliche Seele ihrem Retter zuteil werden. Intoniert ist das kleine Stück österreichisch barock.

Anm. 10 Carolina, Art 79.
Anm. 11 Döpler, Theatrum Poenarum, S. 451.

Als ihme und seinen zweyen Diebs-Gespähnen, nach vorheriger gütig und peinlich ausgestandener Frag, drey Tag vor dem Tod, nemlich am Grichtag, das Leben abgekündt worden. Fragt er: Ist es Ernst, daß ich sterben soll? Als man num ihme ja geantwortet, so fragt er abermal und gleich: Wann dann? Der Widerschall war: am Freytag: Sey Gott Lob und Danck! repliciret der Thäter, so kann ich noch drey Tag meine Sünde bereuen; Herr Verwalter! gebet aber uns nur entzwischen wacker zu essen und zu trincken, es ist das letzte Henckermahl, nachher wird man uns den Brodsack zubinden.
Der Speisen und des Trinckens war genug, weil auch aus der Stadt, von dem andächtigen Weiber-Volck, hierzu etwas beygeruckt worden.
Anm. 12

Anm. 12 Abele, Künstliche Unordnung, S. 7f.

Andächtig motiviert, ist die Spende dieser Frauen als ein Werk tätiger Barmherzigkeit zu sehen. Die Zuwendung zu guter Letzt geschieht hier spontan und kann anders in eigenen Stiftungen auch zur festen Einrichtung werden (… damit sie noch ein wenig Hertz Stärckung haben, den harten Tod zu überstehen). Anm. 13 Es sind Gesten des Abschieds, Zeichen von gelebter Nähe und Trennung im Geist mittelalterlicher Johannesminne.

Anm. 13 Clemens von Burghausen, Wald-Lerchlein, S. 105a. Zur Gefangenenseelsorge vgl. auch Knapp, Lochgefängnis, S. 53; Liese, Caritas, S. 160ff.

Im Gefängnis waren meist auch Besucher zugelassen: eine Freizügigkeit und miteins sehr oft eine Quelle von Missbrauch und Störung, die mit zunehmender Disziplinierung des Strafwesens im Laufe des 18. Jahrhunderts erstickt wird. Anm. 14 Ausgenommen bleibt der Besuch seitens der Familie und der nächsten Verwandtschaft. Bald sind es rührende, bald herzzerreissende Scenen, von denen berichtet wird. Eingeschritten wurde dort, wo Fürwitz (curiositas, die lästerliche) zur Stelle war, Bosheit und braver Bürgersinn einander die Hand reichten.

Indessen bekam Eulenspiegel viele Besuche. Er ärgerte sich darüber so sehr, daß er die Ketten hätte entzwey reissen mögen, zumal als die alten Weiber ihm prophezeyten, daß er ganz gewiß würde gehangen werden. [Till weiss das zu verhindern.] Sogar der Schulmeister mit allen seinen Kindern kam den Till besuchen; dieser redete sehr viel, und war so mager als ein verdorrter Apfelbaum. Er stellte Eulenspiegel als einen bösen Buben den Kindern vor, der nach allen Rechten dem Henker in die Hände kommen müsse. Er sagte gar, daß Till mit eben der Kette, welche er jetzt an Händen und Füssen hatte, aufgehangen zu werden verdiene. Zuletzt fieng er an ein Lied zu singen, und die Kinder sangen mit. Darauf wünschte er dem Till gute Bekehrung und ein seliges Ende. Anm. 15

Damit eilt es hier einstweilen nicht. Und zu Ende des 17. Jahrhunderts dann: […] Also verließen wir ihn und wünschten ihm einen gelinden Tod und die ewige folgende Ruhe. Anm. 16 Dies, nach getaner Besichtigung und gehörig zweifelhafter Auferbauung, die guten Wünsche der vier curiösen jungen Helden in Johann Beers »Jucundus Jucundissimus« (1680).

Anm. 14 Vgl. Ersch u. Gruber, Hinrichtung, S. 2856f.
Anm. 15 Eulenspiegel (1796), S. 60f.
Anm. 16 Beer, Narrenspital, S. 116.

In der Regel nach Möglichkeit kümmern sich mindestens zwei erfahrene Geistliche um den armen Menschen. Tag und Nacht sollen sie einander ablösen können, so dass stets eine Hilfe gewährleistet ist, auch mitten in der Nacht. An ihrer Seite sind die Gefängniswächter, die Wärter und Wärterinnen, zur Mithilfe anzuhalten (und entsprechend einzustellen oder auszubilden). Döpler »Theatrum Poenarum« (1693) zufolge hat die Obrigkeit zu befehlen, dass diese dem armen Sünder Gebethe vorlesen, und dergleichen Psalme und Lieder mit ihm singen, dadurch er in steter Andacht behalten werde, zu welchem Ende er solche Leute zu Wächtern anzunehmen, die lesen können, auch darbey fromm und Gottes-fürchtig seyn. Anm. 17 Neben zahlreichen andern bezeugt eine Notiz vom Jahre 1828 diese Form der Laienseelsorge für Zürich: Sie las mit Nachdenken und Nutzen, wobey ihr auch ihre Wärterinn treulich behülflich war. Anm. 18

Anm. 17 Döpler, Theatrum Poenarum, S. 451.
Anm. 18 Hess, Betrachtungen und Gebethe, S. 318.

Hat der Kirchendiener den Sünder zur Beichte und zum Abendmahl zu führen und mit Gott ihn auszusöhnen, dann wird er ihm auch helfen müssen, mit den Menschen, nicht am wenigsten mit den regierenden, den inneren Frieden zu finden. Die Strassburger Kirchenordnung von 1598 formuliert den Auftrag im folgenden Passus:

Es sollen auch die Prediger fleißig handeln, das die arme Leuthe von Hertzen vergeben, allen Menschen, sonderlich, die sie entweder zu dem Falle oder in die Hafften gebracht haben. Fürnemlich aber, das sie keinen vngedultigen Widerwillen wider die Oberkeit, oder derselbigen Diener, von wegen der Straff fassen, haben oder behalten mögen. Anm. 19

Ein spätbarockes Handbuch für katholische Gefängnisgeistliche formuliert entsprechend, die weltliche Obrigkeit ins Verzeihen stillschweigend einschliessend:

Vor und nach der Beicht solle (der arme Mensch) ermahnet werden, daß er nit allein seinen Feinden, sonder auch denen, welche seiner Gefängnuß und Todt ein Ursach seynd, von gantzem Grund deß Hertzens verzeyhe. Anm. 20

Anm. 19 Strassburger Kirchenordnung, S. 280.
Anm. 20 Suter, Hirten-Stab, S. 373.

Am Vortag und Vorabend der Hinrichtung beherrscht die doppelte Angst vor der Schande und vor dem Tod auf der Richtstatt als dem Schmach-Ort sondergleichen, dem Platz der öffentlichen Schande und des Fluches Anm. 21, den Verurteilten häufig so sehr verstörend, dass der geistliche Tröster sich darauf fast ausschliesslich konzentriert. Mit dem ersten Schritt aus dem Gefängnis wird der Arme, vom Scharfrichter gebunden, zur festgesetzten Stunde der Volksmenge und buchstäblich einer Unmenge von Zuschauern, gleichsam einer gantzen Welt voll Volks Anm. 22, ausgesetzt. Dieses Publikum mag dann noch so laut, ungesittet und störend sein, mitunter der städtischen Ordnung gar zur Gefahr werden, es folgt jedenfalls dem erklärten Willen der Obrigkeit und ihrem gesetzlichen Auftrag. Nach keyserlichem Recht wurde das Ereignis drei Tage im voraus anberaumt und publik gemacht; zum gericht soll verkündigt werden, wie an jedem ort mit gutter gewonheyt herkommen ist (Carolina, Art. 80). Nach dem selben Recht ist zur Eröffnung des Gerichts auch dessen Beläutung angeordnet. Jtem am gerichtßtag, so die gewonlich tag zeit erscheint, mag man das peinlich gericht mit der gewonlichen glocken beleutten (Art. 82). Die bestimmte Glocke wird, mit Döplers »Theatrum Poenarum« zu reden, geläutet, auf daß jederman zulauffe, die Heg- und Haltung des Peinlichen Hals-Gerichts vernehme, und sich durch erfolgende Bestraffung von dergleichen Ubelthaten abschrecken lasse. Anm. 23.

Anm. 21 Müller, Rede von der Richtstätte, S. 4. Vgl. auch Walser, Predigt, S. 11.
Anm. 22 Garzoni, Piazza Universale, S. 507.
Anm. 23 Döpler, Theatrum Poenarum, S. 452.

Schmach und Schande sind der Fluch des Verbrechens. Vor dem armen Menschen können sie sich jetzt als ein einziger horror infamiae Anm. 24 auftürmen. Es stehet eine schwere schwartze Wolken ob deinem Haupt Anm. 25, weiss der Autor der Zürcher »Maleficanten-Schul« (1694). Das Gericht kann die Schande dieses Todes bis hin zur schrecklichsten Misshandlung des Leibes und der Leiche noch steigern. Das Sterbekleid (Sterbekittel), worin der Sünder, der Mörder häufig im roten Hemd, dem rothen Mordgewande, dem Volk vorgeführt wird, Anm. 26 ist in Anbetracht dieser Formen der verschärften Todesstrafe vielleicht die gelindeste Anordnung und doch symbolisiert sie unmittelbar die gänzliche Tilgung der menschlichen und bürgerlichen Ehre. Eine solche Vorführung zur Zeit des 16. Jahrhunderts ist festgehalten in der Ulmer Chronik des Sebastian Fischer: Ach gott, es war ein armer, elender anblick von aim mentschen; er dratt daher in ainem langen bedtelgrawen rock und gieng barfus, het kain hosen an. Anm. 27 Wem immer das böse Stündlein geschlagen hat, der ist der gantzen erbaren Welt zu einem Abscheuen, und dem gantzen Land zu einem Schand-Flecken geworden. Anm. 28

Anm. 24 Martin von Cochem, Fürbereitung zu einem seeligen End, S. 384.
Anm. 25 Meyer, Maleficanten-Schul, S. 264.
Anm. 26 Vgl. Wicky, Rede auf der Richtstätte, S. 3.
Anm. 27 Zit. nach Sommer, Scharfrichter von Bern, S. 39.
Anm. 28 Buss- Trost und Vermahnungs-Rede, S. 2.

Die Familie und oft ein ganzes Geschlecht sind mit dem verschmähten Tod des einen Unglücklichen bleibend gezeichnet. Die Obrigkeit mag die Veröffentlichung es Urteils durch Ausrufer und später im Druck verfügen, im Sinne des Gesetzes ist eine solche Ausweitung des Fluches keineswegs. Den unschuldigen und achtbaren Anverwandten und Nachkommen darf an ihrer Ehre kein Schaden erwachsen. Anm. 29 Bei gegebenem Anlass (1720) nennt es ein Berliner Prediger eine leidige Mode, dass bald dieser, bald jener, bald Eltern und Freundschafften die Schuld tragen sollen, lassens auch wol ihren hinterbliebenen Weibern und armen unschuldigen Kindern entgelten, daß sie ihnen, was ihre Männer und Väter gethan haben, unbarmhertzig vorrücken. Anm. 30 Doch es bleibt die schändliche Tat - die Schande des Hauses, der Stadt, der Schaden der kirchlichen Gemeinde –, und es rührt lange Zeit kaum ein Zweifel an das blutige Gericht über den Täter.

Anm. 29 Öffentliche Rede zur Eröffnung der Gerichtsverhandlung, S. 21.
Anm. 30 Schmid, Zorn-Macht, S. 153.

Aus dem Jahre 1730 die Stimme eines Pfarrers der Stadt Bern: ... da ist vor unseren Augen, und im Gericht einer hohen Obrigkeit eine verruchte Person, welche auß Trieb des leidigen Satans und auß verfluchtem Geitz sich hat bewegen lassen, die leibliche Mutter, hernach mahls auch ihren eigenen Vatter mit Gifft zu töden: O des Fluchs, welchen sie über ihre Seele gezogen hat! O der Schande, welchen sie ihrem Hause, ja auch der gantzen Statt angethan hat! O der Ergernuß, welche sie deiner heiligen Kirche, und der gantzen Christenheit gegeben hatt! Anm. 31

Anm. 31 Geistliches Helf dir Gott, S. 2.

Wie wäre gegen diese Anfechtungen mit Trost wirksam aufzukommen? Die Kirche ist um theologische Argumente nicht verlegen. Doch die tiefste Beschämung des Sünders ist jetzt Gebeten und praktischen Ratschlägen eher zugänglich als aller (paulinischen) Theologie. Der Maleficant und Sünder soll das Leiden und Sterben Christi betrachten und im Glauben zu begreifen suchen, dass der Erlöser mit seinem Tod allen Fluch von deinem Tod hinweg genommen Anm. 32 , dass Schande, Fluch und der ganze horror infamiae eigentlich nur von dieser vergänglichen schnöden Welt sind und mit der künftigen Herrlichkeit (1 Cor 1,5) für nichts zu achten. Zeit und Ewigkeit, ein einziger glücklicher Streich des Richtschwertes scheidet die eine von der andern. Anm. 33 Ist es drum nicht besser, durch eine so kurtze Schmach aller Schmachen der zeitlichen und ewigen (zu) entgehen, und der ewigen Herrlichkeit in dem Himmel (zu) geniessen? Anm. 34 Ergo, folgert nicht anders Nikolaus Haas im »Getreuen Seelen-Hirten« (1722), sehet nicht auf die gegenwärtige Schmach, welche nur eine kleine Zeit währet, sondern auf die ewige Herrligkeit, die euch JEsus durch seine gantz unschuldig erdultete Schmach und Schande erworben hat. Anm. 35

Anm. 32 Meyer, Maleficanten-Schul, S. 268, 239.
Anm. 33 Inschrift auf dem Schwert des Kölner-Scharfrichters: Wenn ich das Schwert zu aufheben… zit. nach Schoeneseiffen, Kurkölnische Strafjustiz, S. 74, Anm. 6.
Anm. 34 Meyer, Maleficanten-Schul, S. 108.
Anm. 35 Haas, Seelen-Hirte, S. 161.

Dringend raten die Seelsorger dem Geängstigten, den Blick von der fürchterlichen Menge Anm. 36 abzuwenden. Denn es pflegen die Maleficanten, wann sie anfangen das zulauffende Volk in das Gesicht bekommen, gern herum zu gaffen, bald nach diesem bald nach jenem sehen. Anm. 37 Der Kapuziner Martin von Cochem (er lässt den Priester seinen Schützling ihrzen): ich will euch langsam fürbetten, bettet mir andächtig nach. Sehet die Leuth nicht an, damit ihr nicht verstöret werdet. Anm. 38 Der arme Sünder soll, dies der Rat im Trostbuch des Jacob Schmid S.J., seinen Blick unabläßich auf sein in denen Handen gehaltenes Crucifix werffen. Anm. 39 Das Auge, mit keinem Blick mehr sich wehrend, ist in Demut niederzuschlagen (underzuschlagen) oder aber nach dem Vorbild des Heiligen Stephanus, des Protomartyr (Act 7,55), zum Himmel zu erheben. Nicht sowohl auf die Zuschauer ist zu achten als vielmehr auf die Engel, die sich nun einstellen werden. Scheuet euch nicht vor der Menge so vieler auf euch sehenden Menschen, weil ihr bald kommen sollet zu der Menge vieler tausend Engel und Außerwehlten. […] die lieben Engel begleiten euch, fromme Christen beten vor euch. Anm. 40

Anm. 36 Steinmüller, Lebensbeschreibung, S. 42.
Anm. 37 Meyer, Maleficanten-Schul, S. 284. Vgl. auch Suter, Hirten-Stab, S. 395.
Anm. 38 Martin von Cochem, Heylsames Gesund- und Kranken-Buch, S. 295.
Anm. 39 Schmid, Kurtze und leichte Weiss, in: Ders.: Trauben der Heiligkeit, S. 337.
Anm. 40 Haas, Seelen-Hirte, S. 221. Vgl. auch Meyer, Maleficanten-Schul, S. 292.

Das schaulustige Volk bei Hinrichtungen steht fast durchwegs im zweifelhaftesten Ruf. Die Trostbücher der Kirche beider Konfessionen wissen es auch anders. Sie versichern den armen Menschen, der den letzten, spöttlichen Weg geht, des Mitleids vieler, vielleicht der meisten, die herbeigeströmt sind, zu sehen wie du dich verhaltest, und was du für ein End nemmen werdest. Etliche wolten sehen, wie er sein End wolt nemen, heisst es von den Zuschauern bei Till Eulenspiegels Galgen-Streich in Lübeck. Die Mehrheit ist dem Schelm günstig gesinnt: daz merer Teil gunten ihm, daz er ledig würde. Anm. 41 Die Zürcher »Maleficanten-Schul« gibt die tröstliche Versicherung ab: Wann du in aller Hertzen hinein sehest, wurdest du, wo nicht bey allen, doch bey dem grösten Theil ein grosses Mitleiden mit dir sehen. Um mit dieser geistlichen Erquickung dann zu schliessen: Es heißt gewiß auch da: ›Vil Leuthe vil Vatter Unser.‹ Es thut auch ein jeder einen guten Seuftzen für dich zu Gott, daß er dich mit Genaden ansehen, dir deine Sünden verzeihen, dich durch seinen Heil. Geist stärken und trösten, und dir ein seliges Ende verleihen wolle. Es will also ein jeder deiner Seel einen Lupf in den Himmel geben. Anm. 42

Anm. 41 Eulenspiegel (hg. v. von Zobeltitz), S. 167.
Anm.4 2 Meyer, Maleficanten-Schul, S. 290.

Der Schrecken der Schande droht dem Verurteilten übermächtig zu werden. – Todesangst und Todesforcht tun es erst recht. Die Angst vor dem festgesetzten, sichern Tod kann ihn während der letzten drei Tage und meist gesteigert in der Nacht vor der Exekution mit einem Schrecken überziehen, der alles Bisherige an Schärfe und Dunkelheit weit übertrifft. Jacob Meyer verfügt über intime pastorale Kenntnis und weiss, daß Maleficanten, geb wie hertz- und trosthaft sie zuvor gewesen, wann sie den letzten traurigen Gang verrichten, von der Todtesforcht dergestalten übernommen, zerschlagen und halb tumm gemacht werden, daß sie schier nicht mehr achten, was man mit ihnen redet oder bettet, oder dasselbe nicht mehr verstehen, und also halb todt sind, ehe sie den Todt leiden. Anm. 43 Die Angst vor dem bestimmten, unausweichlichen Tod gilt vielen für ungleich viel schlimmer als dieser selbst. In den »Selzamen Gerichts-Händeln« (1706) des Matthias Abele wird dem Leser versichert, daß der arme Sünder, so zum Tod geführet wird, wegen der Übergrossen Furcht, schon halb todt seye. So wäre mit Abele und mit den Weisen der alten Stoa, der Weg zum Tod böß und rauh, der Tod aber sanfft? Anm. 44 Der Räuber Spiegelberg, diesbezüglich eine erste Adresse, pflichtet dem barocken Juristen bei und konstatiert bündig: Todesangst ist ärger als Sterben. Anm. 45 Der Seele, die von ihr geknechtet wird (Hebr 2,15), ist dies freilich wenig Trost.

Anm. 43 Meyer, Maleficanten-Schul, S. 3. Literatur zu Todesangst vgl. Begemann, Furcht und Angst.
Anm. 44 Abele, Metamorphosis, S. 231.
Anm. 45 Schiller, Räuber II, 3. Zur Todesangst vgl. auch Scriver, Zufällige Andachten, Das andere Hundert, Kap. XIIX.

Die Theologen suchen den komplexen Bereich der terrores mortis, das dunkle Miteinander von Unruhe (ich heulte vor Unruhe meines Herzens) Anm. 46, von Bangigkeit (eine unaussprechliche Bangigkeit), Angst, Hoffnungslosigkeit (unruhig, elend und verzweifelnd) und schierer Verzweiflung (ich fühlte eine vollkommene Hölle in meiner Seele), mit der grundlegenden Differenz zwischen einer natürlichen (naturalen) und einer geistig-seelischen Angst begrifflich aufzuhellen. Die natürliche bezieht sich auf den Tod des Leibes, den Dieb in der Nacht, die andere auf das ungewisse Heil der Seele. Die eine Angst hätte, in der Bildlichkeit dieser Zeiten, den Henker und Nachrichter zum Grund, die andere – Angst des Geistes, Gewissensangst, Sündenangst sind einige ihrer Namen – ist gebannt im Blick auf den göttlichen Richter.

  • Anm. 46 Zu terrores mortis vgl. Haas, Seelen-Hirte, S. 208; Hess, Betrachtungen und Gebethe, S. 355.

Wie dem Sterbenden in jedem Falle die Engel mit Licht und Macht versprochen sind, wird ihm auf der andern Seite die Feindschaft des Teufels und seiner zahllosen Engel mit Schwänzen Anm. 47 angedroht. Theologisch verstanden, sind Sterben und Tod des Menschen ein letzter Kampf (agon), ein eschatologisches Ringen zwischen den Mächten des Lichtes und der Finsternis. Die gedruckten kirchlichen Sterbehelfer der frühen Neuzeit teilen diese Sicht mit den Artes moriendi des ausgehenden Mittelalters. Es ist, von gelegentlichen skurril-phantastischen und abergläubischen Verzerrungen unbeschadet, die Sicht der Schrift selber. Der Engel will die Vollendung der Welt, Satan, der gefallenen Engel, will die Vollendung der Welt ohne Gnade, das heisst den Tod der Seele für den Menschen. Der Teufel ist derjenige, der nach Hebr 2,14 die Macht des Todes innehat. Anm. 48

Anm. 47 Schiller, Räuber I, 2.
Anm. 48 Rahner, Theologie des Todes, S. 48 f.; vgl. auch Art. Tod, in: Lexikon für Theologie und Kirche 10, 1965, S. 221–226.

Am geistlichen Begleiter ist es darum dringend, den Maleficanten über die tausend Machinationen des höllischen Ertzbetriegers ins Bild zu setzen: ihn wider den Teufel wol (zu) instituiren, nicht nur in Ansehung seiner feurigen Pfeilen und Anfechtungen wegen schwere der Sünden, und des bevorstehenden Todes ( ... ), sondern auch wegen anderer seiner Tüken und Anläuffen. Anm. 49 Ein Berner Prediger gibt der ihm anvertrauten armen Sünderin, nach einem längeren Unterricht im Gefängnis allerdings, in einer Letsten Rede von 1731 zu bedenken: Nun ist der Tag der Nothund der Hülff. Die Noth (Ps 50,15), aufs äusserste gestiegen, zieht im Glauben den helfenden Trost, den Beistand des Heiligen Geistes, herbei. Der Teuffel wird nun an dem End euers Lebens beschäfftiget seyn, euere Seele zu verschlingen, darum wachet über euere Gedancken, und bättet in euer Anfechtung, damit ihr überwinden möget, und endlich den Sieg der Ehren, durch einen seligen Tod, darvon tragen. Anm. 50 An eine gründliche Instituirung der armen Sünder ist in solchen letzten Tagen und gar in der Nacht vor dem Tod, da sie schier nicht mehr achten, was man mit ihnen redet oder bettet, oder dasselbe nicht mehr verstehen, unmöglich mehr zu denken. Die Ars moriendi wäre jetzt gefragt, doch ist sie eine der Natur gar schwere Kunst, und kan nicht so einsmahl gelehrnet werden, der Geist windet und krümmet sich gar heftig, wann er so einsmahl aus seiner Herberg ausziehen solle. Anm. 51

Anm. 49 Meyer, Maleficanten-Schul, S. 91. Es folgt eine Reihe von Beispielen, wie der Bedrängte gewarnt und instituirt werden muss.
Anm. 50 Wahrmund, Letzte Rede, S. 5.
Anm. 51 Meyer, Maleficanten-Schul, S. 247. Vgl. auch Rhegius, Geystlich Artzney, [unpag.].

Die Nacht zuvor verbringen die armen Sünder in ganz unterschiedlicher Verfassung. Manche sind ruhig, sicher, von Vertrauen gehalten, manche entsetzt, Angst und Verzweiflung preisgegeben. Die Erwartung des Seelsorgers wird oft enttäuscht; noch so erfahrenen Seelenkunde und die subtilste pastorale Intuition versagen. Der eine (bekehrte, zur Ruhe gelangte) Sünder schwebt in lauter Furcht und Zittern – der Raubmörder, das Räubergenie Fetzer beispielsweise, beichtet und betet gehörig und tut den Schlaf des Gerechten ( … und als er erwachte, war er so frei und heiter wie immer) Anm. 52. Denen, die in äusserster Not sind, denen anders nicht mehr beizustehen ist, mögen, nach dem Rat der Zürcher Maleficanten-Schul, kurtze Stoß-Gebettlein und Seufzen an die Hand gegeben werden Anm. 53. Das sind kleinste affektive Bitten und Seufzer der frommen Seele, wie die Handbücher sie bereitstellen. Doch vor allem gilt die strikte Regel, den armen Menschen während dieser Nacht niemals alleinzulassen. Anm. 54

Anm. 52 Boehncke, Räuberbanden, S. 799.
Anm. 53 Meyer, Maleficanten-Schul, S. 94.
Anm. 54 Vgl. Martin von Cochem, Fürbereitung zu einem seeligen End, S. 386.

Das Urteil, das drei Tage im voraus zu fällen und dem Delinquenten durch den gerichtlichen oder kirchlichen Boten mitzuteilen ist, Anm. 55 bleibt solange vorläufig, bis es mit seiner feierlichen Promulgation am Tag der Vollstreckung endgültig (entlich) wird. Mit Johann Brunnemanns Anleitung zu vorsichtiger Anstellung des Inquisitions-Processes vom Jahre 1697 zu reden: An dem Tag da die Execution soll vollzogen werden, muß der Richter nochmals öffentlich das peinliche Hals-Gerichte hegen, nach Arth wie solche in der P.H.O. art 82. weitläufftiger beschrieben, oder wie es sonst eines jeden Orts Gewohnheit mit sich bringet. Anm. 56 Im Laufe der drei Malefiztage – der Gnadenzeit, da der Beklagte sein sünd bedenken, beklagen vnd beichten möge – kann das Urteil in sehr seltenen Fällen dank landesfürstlicher Gnade aufgehoben, in seiner Härte bloss gemildert oder aber nur bestätigt werden. Anm. 57

Anm. 55 Vgl. Frölich von Frölichsburg, Commentarius, S. 290; Döpler, Theatrum Poenarum, S. 442.
Anm. 56 Brunnemann, Anleitung, S. 54; Carolina, Art. 4.
Anm. 57 Vgl. Brunnemann, Anleitung, S. 55.

Unter dem dumpfen Geläut der Toten- und Schandglocke ziehen zur gesetzlich festgesetzten Stunde Richter und Urteiler (Schöffen) an die seit alters herkömmliche Gerichtsstätte (meist beim Rathaus, auch auf dem Marktplatz). Der ganze Aufzug mit dem anschliessenden Verfahren ist rituell verbindlich vorgeschrieben: das geltende, geheiligte Recht selber tritt öffentlich in Szene, wenn der Richter, Stab und blosses Schwert in der Hand, das Peinliche Hals-Gericht in der umständlichen Weise hegt und hält, wie es nach Ländlichen Herkommen des Orths, und guter Gewohnheit eines jeden Gerichts älteste Sitte ist. Anm. 58 Vom Henker gebunden, wird gleichzeitig der Maleficant aus seiner Stube vor die Schranken des Gerichts geführt. Der geistliche Beistand geht mit. Das in der Regel kurze endliche Gericht ist insofern eine Szene, die dem Publikum vorgeführt wird, als alles Folgende in der Gerichtsstube beraten, beschlossen und schriftlich festgehalten worden ist. In einem Ratsmanual der Stadt Aarau findet sich anlässlich eines Landtages von 1719 eine entsprechende Glosse zur Erinnerung: NB. Disere ganze verhandlung ist in der rahtstuben beschehen und hernach der ganze process substanzlich vor dem rahthaus in den schranken, dahin mehh. räht und burger sich begeben, verlesen worden. Anm. 59 Ist das Gericht gnugsam gehegt und Klage erhoben, wird das Geständnis des Angeklagten (Urgicht, Vergicht) vorgetragen. Bestätigt er dieses von neuem, so spricht der Richter das Todesurteil aus, mit dem Auftrag an den Gerichtsschreiber, dieses vorzulesen, das Urtheil und näherhin, wie er (der arme Mensch) von Leben zum Tode gebracht werden sol. Anm. 60

Anm. 58 Vgl. Döpler, Theatrum Poenarum, S. 156–158.
Anm. 59 Merz, Aktenstücke, S. 383.
Anm. 60 Döpler, Theatrum Poenarum, S. 453. Zum »Wie« bei peinlicher Strafe vgl. Carolina, Art. 94; zur schriftlichen Form vgl. Carolina, Art. 190.

Als Beispiel hier das Urteil, das 1707 einer Kindsmörderin in Solothurn öffentlich zu verlesen war (das Gericht tagte im Ring vor dem Gasthaus zur Krone): Uff diese des armen mentschen dazugegen gethane Bekanntnuß [Geständnis] begangener Kindtsmorthat haben unsere gnädigen Herren Schultheiß und Rath dieser Statt Solothurn von Ihro geurtheyllet und mit Urtel und Recht erkannt, sye dem Nachrichter zu befehlen, der Ihro Ihre Händ hinter sich uff den Ruggen binden, sye hinaus auf den gewohnlichen Platz und Richtstatt führen, daselbst Ihro das Haupt von den Schultern mit dem schwert abschlagen und nahwertß seiner behörr begraben solle; und wan solches geschehen, solle sye nach Laut unserer gnädigen Herren und Oberen Urtel und Recht gebüßt haben. Der allgütige Gott wolle durch krefftigste Fürbitt seiner ahnbefleckten Jungfräuwlichen Muter Mariae, unserer allgemeinen allergnädigsten Fürbitterin und Helfferin, ihrer armen seel gnädig und barmhertzig sein. Anm. 61

Anm. 61 Todesstrafe im alten Solothurn, S. 65.

Ist das Urteil öffentlich gemacht, zerbricht der Richter, wo dies Gewohnheit ist, den Stab Anm. 62 und befiehlt den armen Menschen dem Nachrichter zur getrewlichen, Jakob Döpler sagt buchstäblichten Vollstreckung der Strafe. Dann erhebt sich der Richter und mit ihm das Gericht. ( … in eben dem Augenblicke stunden auch alle Gerichtspersonen auf, stiesen Tafel und Stühle um, und schrien: Zeter! Zeter! Zeter!) Anm. 63 Der endliche Rechtstag ist damit abgeschlossen. Der Henker, vom Richter feierlich unter fried-Schutz gestellt, Anm. 64 nimmt den Maleficanten zu Handen und Banden, das heisst er bindet ihn wiederum und führt ihn weg zur Richtstatt.

Anm. 62 Zum Brechen des Stabes vgl. Carolina, Art. 96; Döpler, Theatrum Poenarum, S. 453.
Anm. 63 Salzmann, Carl von Carlsberg, S. 40.
Anm. 64 Vgl. Carolina, Art. 97; Döpler, Theatrum Poenarum, S. 169.

Dieser endliche Rechtstag, der die Hinrichtung erst ermöglicht, ist fraglos eine in Szene gesetzte Form von Recht und Gerechtigkeit. Er ist in der Tat ein Theater. Anm. 65 Doch Theater nicht so, dass in altem germanischem Kostüm falscher Schein erweckt würde. Vielmehr gelangt hier, gleichsam aus dem Halbdunkel der raht- und Schreibstube, das Recht auf den mittelalterlichen und barocken Schau-Platz der Welt, ans Licht der jeweiligen Oeffentlichkeit und damit zur Verbindlichkeit. Dergestalt, in dieser ritualisierten Aufführung muss es, um wirklich zu werden, erscheinen, ins Leben treten, sinnliche Existenz annehmen. Anm. 66

Anm. 65 Schild, Wolfgang: Bilder von Recht und Gerechtigkeit, Köln 1995, S. 126. Vgl. Huizinga, Homo ludens, S. 79–90.
Anm. 66 um Begriff der Öffentlichkeit (vormodern) vgl. Schild, Wolfgang: Bilder von Recht und Gerechtigkeit, Köln 1995, S. 136f.; ebd. S. 129.

Schrecklich und abscheulich findet die sinnliche Erscheinung des Rechts in der Prosa der Welt immer wieder auch statt. Der Gedanke der Abschreckung (Generalprävention) ist ihm keineswegs fremd. Nachdrücklich hält der spätere Kommentar deshalb fest, dass das Bonum Publicum der vollen Oeffentlichkeit der Strafgerichte bedarf, damit jedermann von Uebeltaten abgeschrecket und wirksam abgehalten werde. Abzuschrecken ist fürnehmlich der Sinn der Strafe (ratio Poenarum) Anm. 67. Der Rechtstag hebt an mit dem Aufruf der Glocke, auf daß jederman zulauffe, die Heg- und Haltung des Peinlichen Hals-Gerichts vernehme, und sich durch erfolgende Bestraffung von dergleichen Ubelthaten abschrecken lasse. Anm. 68 Beides, die rituelle Rechtssprechung wie die Exekution danach, verfolgt den einen Zweck und bleibt, mit einem programmatischen Wort zur Eröffnung des Gerichts, unabdingbar: damit das Böse und Missthun gestrafft, das Land von so schwären Lasteren gereiniget, und anderen ein Exempel zum Ab-scheuen vorgestellt werde Anm. 69.

Anm. 67 Döpler, Theatrum Poenarum, S. 158.
Anm. 68 Döpler, Theatrum Poenarum, S. 452.
Anm. 69 Widmer, Blutgericht, S. 29.

Entsprechend lautet auch die nachdrückliche stehende Wendung, mit der die Todesurteile schliessen: … und das [dieses Urteil] imme zu wohlverdienter Straff, anderen aber zum abschewen und exempel (Zug, 1604). Anm. 70 Nicht anders zwei Jahrhunderte später in einem Urteil des Stadt- und Malefizgerichts von Diessenhafen (1779): … zur Richtstatt ausgeführt, und allda zur wohlverdienten Straf, zur Sicherheit des Nebenmenschen, andern aber ihres gleichen, besonders dem zahlreich herumlaufenden Herrenlosen Diebs-Gesindel zu einem abschreckenden Exempel. Anm. 71 In einer barocken Predigt schliesslich wird das abschewliche Exempel einer Hinrichtung wie folgt erläutert: Gleichwie man eine Malefizpersohn offentlich richtet, ob man schon dieselbe nur allein richtet, so gibt doch die Gerechtigkeit allen andern Leuten zu verstehen, das wer sich übel verhalten wird wie die Malefizpersohn, dem soll es auch eben so ergehen. Anm. 72

Anm. 70 Stutz, Strafrecht, S. 106.
Anm. 71 Kurze Beschreibung der Diebstählen, S. 16.
Anm. 72 Prokop von Templin, Threnale, S. 445. Vgl. auch Heydenreuter, Kriminalgeschichte Bayerns, S. 108f.; Sommer, Scharfrichter, S. 108; Koch, Strafrechtsbelehrung, S. 9.

Doch kann Abschreckung, kann gar die Intention, das zum Gerichtstag rundum zulauffende Volk mit lauter Angst und Schrecken zu überziehen, nicht das Letzte sein. Letztlich ist es ganz anders darum zu tun, Verständnis und Vertrauen in das geheiligte Recht zu wecken, Rechtsvertrauen zu stiften und von aller Rache und Selbstjustiz abzuhalten. Das Schwert des Gerichts, das der Herrschaft von oben verliehen ist (Rom 13,4), bedeutet deren Auftrag, den Bestand der gottgewollten Ordnung (ordo) zu erhalten. Solange fride unde reht stets von neuem drohen Schaden zu nehmen, Anm. 73 heisst das, die Sicherheit eines jeden Nebenmenschen und das alle umfassende geordnete Ganze zu gewährleisten. Der Zynismus einer substanziellen Generalpräventionstheorie, die den Zweck der Abschreckung zum alleinigen Grund der Strafe machen will, ist der Carolina fremd. Sie wollte auch im endlichen Rechtstag und in der Hinrichtung nicht Terror verbreiten und die Menschen dadurch disziplinieren, sondern den göttlichen Auftrag, Gerechtigkeit zu üben und die Missetäter zur Verantwortung zu ziehen, erfüllen, wofür ›gott unnd die heilligen Evangelia‹ helfen sollten (Art. 3). Anm. 74

Anm. 73 Walther von der Vogelweide, 1. Reichston (Lachmann 8,25ff.).
Anm. 74 Schild, Wolfgang: Bilder von Recht und Gerechtigkeit, Köln 1995, S. 131. Vgl. auch ders., Geschichte der Gerichtsbarkeit, S. 44.

In diesem Sinne wünscht um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein Prediger der Stadt, die er verlässt, zum Abschied Regenten, die das Volk richten mit Gerechtigkeit, und den Bekümmerten Recht schaffen mit Billigkeit, auf daß die Berge dem Volk Frieden tragen, und die Hügel Gerechtigkeit, und die Bößwichter dagegen vor ihrem Schwert kein Asylum finden können. Anm. 75

Der Rechts Tag wurd gesetzt, fünffzehenden November, 1754.
Für diese drey Böswicht, und schädliche Entwender,
Mit Schwerdt, mit Strang und Rad, wurden sie hingericht,
Wie man vom sehen selbst, hat grundlichen Bericht.

[…]
Vergicht und Urtheil war, deutlich da vor gelesen,
Es war gewaltig Volck, gab auch ein grosses Wesen,
Aus dem Schloß in das Feld, waren sie außgeführt,
Nach Keyserlichem Recht, alda justificiert.
Anm. 76

Anm. 75 Breitinger, Herzlicher Abschied, S. 27. Vgl. auch Psalm 72, 2f. und Exodus 21, 14 f. (hat aber jemand einen anderen ermordet). Vgl. auch Grob, Gewalt der Oberkeit, S. 9f.
Anm. 76 Vorstellung oder Bericht Schnapper-Band, S. 16f.

Es folgt die Ausführung. Der arme Mensch, vor Gericht frei, ledig allen Banden, Anm. 77 wird vom Henker, am Strick gebunden, hinausgeführt, immer häufiger auch hinausgefahren, um hingerichtet zu werden: justificiert mit Schwert, Strang oder Rad. Tiere werden gebunden, das Vieh wird am Strick zum Schlächter gebracht.

Hinrichtungsszene, Holzschnitt

Bild aus: Bambergische halßgerichts vnd rechtlich Ordenung, in peynlichẽ sachen zů volnfarñ, allen Stetten, Communen, Regimenten ... fürderlich vñ behilfflich, darnach zůhandeln vnd rechtsprechẽ, gantz gleichfoermig gemeynen geschribẽ, Rechten ec. Mainz: Jophann Schöffer 1508. http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00005371/image_54
Digitalisat einer anderen Auflage http://www.uni-mannheim.de/mateo/desbillons/bambi/seite77.html

Den zur Freiheit bestimmten, mit Freiheit geadelten Menschen zu binden heisst, seine Ehre anzutasten, ihn eigentlich zum Knecht und Sklaven zu erniedrigen. Dass der unehrliche Scharfrichter, dessen blasse Berührung bereits schändlich ist, einen bindet und wegführt, macht Schmach und Schande vollends unmenschlich. Anlässlich einer Hinrichtung des Jahres 1834 spricht ein Prediger daher von entmenschenden Banden. Anm. 78 Einer des 17. Jahrhunderts, Erasmus Francisci, hat dementsprechend gewarnt: Darum lebe nicht, wie ein Vieh, und unachtsames Thier: auf daß du nicht, wie ein Vieh, davon fahrest. Anm. 79

Anm. 77 Zit. nach Osenbrüggen, Studien, S. 281. Vgl. auch Widmer, Blutgericht, S. 94f.
Anm. 78 Frei, Standrede, S. 4.
Anm. 79 Francisci, Unfehlbares Weh der Ewigkeit, S. 196.

Nach Brunnemanns Anleitung (1697) ist dem Henker ernstlich zuzureden, damit er dem Maleficanten den letzten Gang möglichst erleichtere und auch als Tröster ihm gütlich beistehe. Anm. 80 Die beiden Priester, die als kirchliche Begleitung bereits in der Carolina vorgesehen sind, nehmen ihn beim außführen oder außschleiffen meist in ihre Mitte. Mit ihnen ist der Arme bekannt geworden; ihrem Beistand bleibt er bis zuletzt anbefohlen. Sie sollen ihm, so die Empfehlung in den Halsgerichtsordnungen, ein Crucifix vortragen, das Inbild geduldigen Leidens und Sterbens im äussersten Elend. Anm. 81 Priester gehen neben dem armen Sünder mit, geistliche Tröster, die jn zu der lieb gottes, rechtem glauben vnd vertrawen zu Gott vnd dem verdienst Christi vnsers seligmachers, auch zu berewung seiner sünd vermanen. Anm. 82

Anm. 80 Vgl. Brunnenmann, Anleitung, S. 55.
Anm. 81 Vgl. den Holzschnitt von Wolfgang Katzenheimer in der Bambergischen Halsgerichtsordnung von 1507. Über dem Bild des Galgenpaters, der auf das Kreuz weist, steht der mahnende Spruch: Wo du gedult hast in der peyn | So wirt sie dir gar nutzlich sein | Darumb so gib dich willig darein. Vgl. auch Schild, Geschichte der Gerichtsbarkeit Abb. 64 und Abb. 65.
Anm. 82 Carolina, Art. 102.

Im Jahre 1842 kommt es in Luzern zu einer mit grosser Spannung erwarteten Exekution. Wenige Minuten nach dem Schwertstreich erläutert der Stadtpfarrer dem Publikum, einer ungeheuren Menge von Zuschauern, Anm. 83 die weltlich-kirchliche Symmetrie der Ausführung zum Blutgericht: Zu seiner (des armen Menschen) Seite sahet ihr die Diener der Gerechtigkeit, die Männer der Justiz,geschäftig, alles streng und unerbittlich zu vollziehen, was das Gesetz verordnet. Gegenüber die Diener der Barmherzigkeit, die Priester, als Boten des Friedens, bemüht, ihm seinen Todesweg leichter zu machen, seine geängstete Seele auf den nahen Uebergang in die Ewigkeit vorzubereiten, und die unergründliche Barmherzigkeit Gottes ihm zu verkünden. Anm. 84

Anm. 83 Im Bericht des Eidgenossen von Luzern, S. 226, wird die herzergreifende Rede Punkt für Punkt referiert und gewürdigt.
Anm. 84 Sigrist, Weg zum Blutgerichte, S. 3. Die Boten des Friedens (angeli pacis) nach Jesaja 33, 7. ecce videntes clamabunt foris angeli pacis amare flebunt. Zum Vollzug der Todesstrafe in Luzern vgl. Helfenstein, Vollzug der Strafen, S. 73–83.

Zunächst der Dienst an der Gerechtigkeit. – Die Ausführung erfolgt zu Fuss in der Art einer Prozession oder eines Leichengeleits, als das letzte Stück auf dem Weg des Lebens. Noch so viel Andrang, Lärm und Getümmel vermögen dem Vorgang – Swifts Solemn Procession (1724) –, wiewohl sie stören, kaum etwas anzuhaben. Ebenso gebräuchlich ist die Fahrt auf dem Armsünderkarren, einem grobschlächtigen Fahrzeug. Herausfuhr nennt Matthias Abele diese andere Form. In Städten sind es auch Kutschen … zu weilen zu der Gutsehen hinauß gesehen, Reverentzen gemacht, und sich beurlaubet, wird vom Grafen Philipp von Arco berichtet. Anm. 85 Ist der Verurteilte behindert, kann gegen Brauch und Gewohnheit ein Wagen benützt werden; die beiden Geistlichen sitzen dem Opfer gegenüber. Anm. 86 Das Schleiffen, außschleiffen, stellt einen verschärften Modus der Strafe dar. Der arme Sünder wird, auf einer Kuhhaut festgebunden, von Pferden gezogen. Er wird durch die vnuernünfftigen thier geschleyfft, Anm. 87 präzisiert die Carolina, um auf den spiegelnden Charakter der Bestrafung abzuheben. Denn als Gottes Geschöpf ist der Mensch über das Tier gestellt. Das Wesen, das mit Vernunft (ratio) begabt und mit dem aufrechten Gang nach oben verwiesen ist, wird durch den Kot der Strasse geschleift, und dies von unachtsamen Tieren. Ein Urteil von 1616 formuliert: dem Henker an die Hand (…) gegeben, gebunden, vnd nachmals von den vnvernünfftigen Thieren, biß ›ad locum suplicii‹, oder an die Richtstatt, geschlaifft. Anm. 88

Anm. 85 Ausführliche Relation. Vgl. auch Zipf, Generale, 1983/84.
Anm. 86 Vgl. von Schmid, Erinnerungen, S. 89; Keller, Scharfrichter, S. 150.
Anm. 87 Carolina, Art. 193. Zur Strafe des Schleifens vgl. Wrede, Körperstrafen, S. 350, 375.
Anm. 88 Relation, oder kurtze wahrhafte erzählung, 1616. Der Mensch artet aus. Vgl. dazu: Schauplatz der ausgearteten Menschheit, 1799; Pico della Mirandola, De hominis dignitate , S. 9; Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 173–176 (Status und Bestimmung des Menschen).

Die ganze Stadt zog dem Spektakel nach, Reuter und Fußgänger durcheinander und Wagen, der Lärm und der Galgenpsalm johlten weit.
Was leichte Beine hatte, war ausgeflogen der Komödie nach, und nur der Bodensatz der Stadt blieb zurück, die Häuser zu hüten.
Anm. 89

Anm. 89 Schiller, Räuber II, 3. Zurück bleiben die Alten, Kranken und die schwangeren Frauen.

Ein Teil der Zuschauer ist, um auf dem Schauplatz die besten Plätze zu sichern, vorausgeeilt. Der Andrang der Schaulustigen kann ein beängstigendes, gelegentlich fatales Ausmass annehmen. In den engen städtischen Gassen wird der Zug behindert, der arme Sünder droht von dem vnsäglichen Hauffen Volcks bald erdrückt zu werden. Anm. 90 Für die Hinrichtung vom 19. Oktober 1615 notiert das Tagebuch des Nürnberger Scharfrichters Meister Franz: 5 Jungen mit dem Strang gericht, die viel hin und wider gestolen. […] Ritten 6 Statdknechte mit, den es war ein groß gedös des Volks. Anm. 91 Die militärische Bedeckung der feierlichen Ausführung wird, vom jeweiligen Ceremoniale detailliert verordnet, danach in den Gerichtsakten für jede Charge auf Heller und Pfennig peinlich abgerechnet, Anm. 92 mit der Zeit zunehmend aufwendiger und prächtiger. Demonstratives politisches Gepränge lässt die polizeilich-praktischen Zwecke zurücktreten. Da die aufgeregte ganze Stadt unterwegs ist, will die Stadt selber auch behütet sein. Am tag der execution soll, laut Vermerk im Ratsmanual der Stadt Aarau für den 19. Januar 1705, h. großweibel doppelte wachten vnder die thor stellen vnd zwar vnder jedes 10 mann. Anm. 93

Anm. 90 Scobell, Ihr Hochheit des Herren Protectors, S. 4. Zur Schilderung des Zugs vgl. auch Todesurtheil über Sennhauser und Lattmann, S. 31.
Anm. 91 Meister Franz, Tagebuch, S. 123.
Anm. 92 Vgl. zum Beispiel das Berner Ceremoniale zur Vollziehung eines Todes-Urtheils. Vgl. auch Ryter, Eine Frau wird enthauptet, S. 60-75.
Anm. 93 Merz, Aktenstücke, S. 379.

Wie sehr die Vorsicht geboten sein kann, zeigen Schillers »Räuber«. Doch stehen Schutz und Bewachung des Maleficanten, auch des Scharfrichters (ob jm mißling und seine Meisterschaft versagte Anm. 94) im Vordergrund. Das Aarauer Manual benennt namentlich die Vertretung des städtischen Regiments, die Gerichts-Personen (Döpler), die zum gewohnlichen richtorth mitreiten, um dort das Nötige vorzukehren, falls etwas vorfiele von importantz. Anm. 95 Der Richter soll den Scharfrichter bei seiner Arbeit überwachen: ob er den armen Sünder bald abhelffe, oder lange quähle und metzele. Auch tut der Richter gut daran, bis zuletzt zuzuwarten: biß alles verrichtet ist, und die Leithern von den Galgen und Rädern wieder weggeschaffet worden, damit die Nachrichter nicht sagen, noch sich entschuldigen können, es hätten es andere gethan, und die Hoch-Gerichte beraubet. Anm. 96 Hunderte und Tausende finden sich ein, so dass häufig auch Flurschäden drohen, die nach Möglichkeit wenigstens zu begrenzen sind. Eulenspiegel, der bereits unter dem Galgen steht, todgeweiht, argumentiert zu seinem Heil nicht mit diesen, doch umso besser mit den Schäden, die auf seinen Tod folgen müssten.

Anm. 94 Zum Misslingen der Hinrichtung vgl. van Dülmen, Theater des Schreckens, (Kapitel &&&).
Anm. 95 Merz, Aktenstücke, S. 379.
Anm. 96 Döpler, Theatrum Poenarum, S. 458, 460.

Szene vor einem Galgen, 1796, in schwarz-weiss

Bild aus: Leben und Thaten des jungen Till Eulenspiegels, dessen Schnacken, Schnurren und Possen zur angenehmen Unterhaltung für jedermann lustig beschrieben in zwanzig Kapiteln, [o.O] 1796; zu Kapitel 8.

Die Richter sollen bedenken, wie sämtliche Saat rund um das Hochgericht demnächst ruiniert würde – denn, da ich Eulenspiegel bin, so wird man lange her laufen, meinen Hinrichtungsort zu sehen. Sehet, meine ehrlichen Herren von Meissen, alle dem könnet ihr abhelfen. Anm. 97 Für diese Herren tatsächlich ein Grund mehr, den Schelm lieber laufen als am Strang hängen zu lassen. Immer sind auch Kinder unterwegs. Die Schüler singen, vom Praeceptor angeführt, den Galgenpsalm, das sind die Psalm- und Kirchenlieder, die als Trost den armen Sünder begleiten. Wenn es nach Justus Claproths Ohnmasgeblichem Entwurf (1774) geht, ist die Zeit des Gerichts strikte schulfrei zu halten, da denn sämmtliche Schulkinder von denen Schullehrern dahin geführt, und in einem Kreise ganz nahe zugelassen werden müssen. Claproth, der gelehrte Göttinger Jurist, setzt ohne Zögern und Bedenken bei der Vollstreckung der Strafe im Angesicht derer schulkinder auf den meisten Effekt der Abschreckung. Anm. 98 Immer und immer wird der Zulauf aller Gattung Menschen grösser Anm.  99, berichtet nach einem Landtag auf Schloss Kyburg ein anonymer junger Zürcherischer Landmann im Jahre 1792. Auch, und meist missbilligend wird betont, gerade auch Frauen nehmen an Gerichtstagen teil und sind mitunter gar in der Überzahl Anm.100. Der Holzschnitt, der im Eulenspiegel von 1796 den Galgen-Schwank illustriert, zeigt sehr auffällig fast nur Zuschauerinnen um den Galgen gedrängt.

Anm. 97 Eulenspiegel (1796), S. 62.
Anm. 98 Claproth, Entwurf, S. 193.
Anm. 99 Geschicht und Begebenheit einer jungen Kindsmörderin, 1792, S. 8.
Anm. 100 Vgl. Ruoff, Scharfrichter, S.16

Im spätmittelalterlichen Schwäbisch Hall hat man anno 1480 noch gedacht und unter Strafe dekretiert, dass bei Exekutionen und anderen peinlichen Strafverfahren keine fraw oder tochter, jung, alt reych oder arm, zusehen noch fürlauffen oder furdringen sollen. Anm. 101 Die Kritiker und Satiriker, die im 18. und 19. Jahrhundert diese weibliche Majorität geisseln, sind keineswegs bereit, ein natürliches Mitleid der Frau dafür als Grund gelten zu lassen – wie dann die Frauen natürlich geneygt seynd zu Mitleyden (1573) Anm. 102 und, dem Zedlerschen Lexikon (1733) zufolge, gemeiniglich zärtlicher (sind) als die Männer Anm. 103 –, vielmehr moniert die Kritik diesbezüglich eine besondere Roheit und Gemüthlosigkeit ihrer Zeit. Eine Berner Pressemeldung von 1845 hält fest: Wie gewöhnlich hatte das blutige Schauspiel eine Masse von Menschen herbeigezogen, selbst elegant gekleidete Frauenzimmer und Mütter mit Säuglingen fehlten nicht. Anm. 104

Anm. 101 Zit. in: Nordhoff-Boehne, Gerichtsbarkeit, S. 117.
Anm. 102 Walasser, Leben Christi und Mariae, S. 524.
Anm. 03 Art. Barmherzigkeit, in: Zedler 3, Sp. 478.
Anm. 104 Berner Zeitung, 1845, S. 350, zit. in: Michel, Todesstrafen, S. 146.

Ebenfalls aus Bern meldet zwei Jahre danach ein Journalist: Das heutige traurige Schauspiel der Hinrichtung der A. M. Flückiger bot wiederum den Beweis dar, daß in solchen Fällen mehr Neugierde und Rohheit als demüthigender Eindruck und Theilnahme bei den Zuschauern hervortreten. Unübersehliche Haufen, worunter ein großer Theil vom andern Geschlecht, begleiteten dicht gedrängt und in ziemlichem Getümmel den Zug mit der Verurtheilten, welche zu Fuß zwischen zwei Geistlichen dem Hochgericht zuwanderte, wo auch schon eine ungeheure Menge versammelt war, um dem Ende der Unglücklichen beizuwohnen, deren Kopf der Nachrichter H. mit Meisterhand vom Rumpfe trennte. Von Unglücksfällen oder Vergehen bei dieser Gelegenheit hat man bis jetzt nichts vernommen. Anm. 105

Anm.  105 Berner Volkszeitung 1847, S. 398, zit in: Michel, Todesstrafen, S. 146f.

Wie der Richtplatz nach jeden Orts Gewohnheit festgelegt ist, ebenso folgt der Gang dahin alter, jahrhundertelang ritualisierter Gewohnheit. Das Ceremoniale der Stadt Bern verordnet den kürzesten jedoch bequemsten Weg. Anm. 106 Ohne besondere Not von ihm abzuweichen, stellt einen gravierenden Verstoss dar. Gassen und Strassen, die zu passieren sind, werden häufig nachdem dunklen Geschehen benannt (Kreuzgasse, Mördergässlein, Malefikantengässel). Nach altem Brauch verlangt ein St. Galler Urteil von 1806, der Delinquent sei durch die gewöhnliche Reichsstraß auf den Richtplatz zu führen. Anm. 107 Denn der grösseren Oeffentlichkeit halber – zu merer forcht andern – ist das Hochgericht mancherorts an der Haupt- und Reichsstrasse gelegen, bei der reichs lantstrass, an offener freyer Reichsstrasse. Anm. 108

Anm. 106 Berner Ceremoniale, S. 6.
Anm. 107 Urgicht und Urtheil über Johann Baptist Bub, 1806.
Anm. 108 Widmer, Blutgericht, S. 54.

Im Todesurteil kann sowohl der bestimmte Weg zum Gericht als auch die qualifizierte Strafe vorgeschrieben sein. Zum Beispiel in dem Text, der am Richttag der Elisabetha Bluntschli in Zürich publiziert wird:

Todes-Urtheil
der unglückseligen
Elisabetha Bluntschli,
Welche erstlich ihre Mutter und hernach
auch den Vater aus Satanischer Bosheit
mit Gifft hingerichtet;
Mittwoch, den 23. Augstmonat, 1730.

Es ist erkennt, daß sie bey der Anlände aus dem Wellenberg, ohne den Boden zu betretten, auf eine Schleiffen gesezet, hinab für das Rahthauß geführet, allda nach Vorlesung der Urtheil die Hände ihro für sich gebunden, und sie darnach auf die gewohnte Wahlstatt geführet, daselbst auf einen Scheiterhauffen auf dem Ravenstein an einen Pfahl angebunden, und ihro ein Pulfer-Sack um den Halß gethan, darnach ihre beyde Aerme an Neben-Pfähle ausgestrecket, fest gemachet, und sie an jeden derselben einmahl mit glüenden Zangen gepfezet, so dann der Scheiterhauffen angezündet, und sie zu Aschen verbrandt werden solle. Anm. 109

Anm. 109 Todes-Urtheil gegen Elisabetha Bluntschli. Vgl. auch Gottholds christliche Betrachtung.

Der spätere Zürcher Bürgermeister Johann Kaspar Escher, in den Jahren 1717–1723 Landvogt der Grafschaft Kyburg, kritisiert in einem zunächst privaten Memorandum die städtische Exekution als über die Massen scharf und zum Teil unbarmherzig. Anm. 110 Ein Wort dieses kultivierten, tatsächlich bedeutenden Staatsmannes zu den Opfern des damaligen Strafvollzugs ist nachdrücklicher Erwähnung wert: Diese victimae sind nit allemal Bösewicht und meritieren gemeinklich vil Mitleiden; aufs wenigest werden diese Sachen von andern vernünftigen Völkern auf solche Weise gefasset und practiciert. Anm. 111

Anm. 110 Vgl. Escher, Bemerkungen, S. 271.
Anm. 111 Escher, Bemerkungen, S. 271.

Elisabetha Bluntschli hat jedenfalls die Nacht vor dem Tod im Wellenberg, einem Wasserturm der Limmat, verbracht. Die dortigen Verliese, Obedienz-Stuben Anm. 112 zuallerletzt, waren als feuchte, finstere Gestanklöcher (Zürcher Maleficanten-Schul von 1694) gefürchtet. Ist es kalt, merkt Landvogt Escher an, so erfriert (der arme Maleficant) zuvor schier im Thurn. Anm. 113 Von diesem Wellenberg wird die junge Frau übers Wasser zur Schifflände, Anlände, am rechten Flussufer gefahren, doch ohne hier den Boden zu betretten, ohne die Erde nochmals mit Schuld zu beflecken. Anm. 114 Weiter wird sie für die zeremonielle Verlesung des Urteils zum Rathaus geschleift. Danach gelangt der Zug, nun in der Kleinen Stadt, via Strehlgasse und Rennweg durchs Rennwegtor auf die gewohnte Richtstätte ausserhalb der Stadt. Anm. 115 Auf dem dortigen Rabenstein wird Elisabetha Bluntschli noch immer in der Weise durchs Feuer bestraft, wie zwei Jahrhunderte zuvor die kaiserliche Halsgerichtsordnung den Tod für Giftmörder bestimmt hat. Anm. 116

Anm. 112 Quanter, Zuchthaus- und Gefängsniswesen, S. 78.
Anm. 113 Escher, Bemerkungen, S. 271.
Anm. 114 Möglicherweise spielte auch der Aberglauben, dass Hexen nur dann Macht haben, wenn sie den Boden berühren, eine Rolle. Vgl. Handwörterbuch des Aberglaubens 3, 1931, Sp. 1875.
Anm. 115 Zu Hinrichtungen innerhalb der Stadt Zürich vgl. Ruoff, Scharfrichter, S. 16.
Anm. 116 Carolina, Art. 130. Vgl. Wrede, Körperstrafen, S. 350.

Karte von Zürich, darauf von Hand eingezeichnet der Weg.

Eine ähnliche Stadtkarte in: Schweytzer Chronick/ das ist Beschreybunge gemeiner loblicher Eydgnoschafft Stetten, Landen, Völcker und dero chronickwirdigen Thaaten […] folgends durch H. Johan Ruodolph Stumpfen an vilen Orten gebesseret, gemehret und von anno 1548 biss auf das 1587. continuiert, an jetzo aber biss auf das gegenwirtige 1606 aussgeführt […] Getruckt zuo Zürych bey Johans Wolffen, 1606. Fol cccclxxx verso. http://www.e-rara.ch/zuz/content/pageview/5835133 — Vgl. den Stadtplan von Zürich, von Jos Murer 1576) https://de.wikipedia.org/wiki/Murerplan

Sowie die Strafe vollstreckt ist, wendet sich der Nachrichter an den Richter mit der längst vorformulierten Frage: ob er recht gericht habe. Der Richter antwortet: So du gericht hast, wie vrteyl vnd recht geben hat, so lass ich es dabey pleyben. Anm. 117 Nicht überall ist der Auftrag des Scharfrichters damit vollends erfüllt. Dem Theatrum Poenarum zufolge soll er auch förmlich danken: das dancke ich GOtt, und meinem Meister, der mir solche Kunst gelehrt hat! Zuletzt ist ihm – dem Henker – noch ein Wort der Vermahnung aufgegeben, des Inhalts, daß sich iederman vor dergleichen Ubelthaten hüten, und niemand auf solche Maße unter seine Hände gerathen möchte. Anm. 118 So ist das Verfahren abgeschlossen, mit Döplers 'Theatrum Poenarum': der Proceß seine Endschafft hat.

Anm. 117 Bambergische Halsgerichtsordnung, Art. 119.
Anm. 118 Döpler, Theatrum Poenarum, S. 458.

Johann Kaspar Escher beanstandet am zürcherischen Verfahren eine Härte, die, bei aller gebotenen Strenge von Recht und Gerechtigkeit, dringend zu mildern wäre. Wird doch das Opfer (victima) zu dieser Zeit gebunden schier wie eine wilde Bestie, die man zum Schlachtbank führet. [Es] muss also fast zwei Stunden lang mit grossem Schmerzen und unsäglicher Schmach ad locum suplicii gehen, daselbst auf eine unbarmherzige Weise erst gerüstet werden etc. Anm. 119 Ein Todesgang von zwei Stunden kommt Escher als eine unzulässige Tortur vor. Auch das Berner Ceremoniale von 1798 mag daher fordern, dass der Zug sich nicht allzu langsam fortbewege. Escher wäre gar bereit, das bisherige, im Ursprung mittelalterliche Procedere zwischen Wellenberg und Richtstätte und nicht zuletzt auch die ganze öffentliche Zurüstung (praeparatio), das Schneiden der Haare und das Entkleiden des Maleficanten, fallenzulassen.

Wäre nit besser, man würde den Maleficanten aus dem Thurn vor Tag in eine Stube, so nah dem Richtplatz als möglich, bringen, ihn da refocillieren, zum Tod bereiten, ihme ein Ueberkleid anlegen, das nur müsste aufgelöst werden, das Papistische Läuten unterlassen und die arme Victimam, wann die Zeit vorhanden, auf den Richtplatz führen so bald möglich. Anm. 120

Anm. 119 Escher, Bemerkungen, S. 271.
Anm. 120 Escher, Bemerkungen, S. 271.

Vor der Enthauptung war aus technischen Gründen der Hals des Opfers völlig freizuhalten. Ein Prediger des 19. Jahrhunderts nennt es die unheimliche Vorarbeit, Anm. 121 die im alten Zürich geschützt in einem eigenen Haarhäuschen Anm. 122 stattgefunden hatte. Nach einer Hinrichtung vom Jahre 1875 wird aus Glarus berichtet: Viele Tränen des Mitleids wurden ihm geweint, besonders als er im Augenblick, wo ihm das Haar abgeschnitten wurde, gesagt, indem er etwas Wein zu sich nahm: ›ich trinke das Blut meines Herrn Jesu Christi zur Verzeihung meiner Sünden‹. Anm. 123 Nach Ansicht des Kyburger Landvogts wäre auf diese und nicht anders auf die Szene der schmählichen Entkleidung – ungeachtet ihrer symbolischen Prägnanz: die Kleyder seind gleichsamb symbola vnd zeichen deß Todts Anm. 124 – besser zu verzichten.

Anm. 121 Hirzel, Hans Jakob Kündig, S. 54f.
Anm.122 Ruoff, Hauptgrube, S. 222.
Anm. 123 Legler, Glarnerische Todesurteile, S. 31.
Anm. 124 Albertinus, Landstörtzer Gusman, S. 203.

Hinrichtungsszene von 1789

Bild zum Rabenstein: Kurze Beschreibung der am 29sten May 1789 in Zittau vollzogenen Exekution, an Christian Franz und Joh. Friedr. Pfeiffer, welche nach eingeholten Urthel und Recht mit der Schwerdt vom Leben zum Tode gebracht worden sind. Quelle: Rechtsarchäologische Sammlung von Karl von Amira http://bsbdipriorkat.bsb.lrz.de/amira/blaetter/blatt.php?id=193

Der Rabenstein, zu dem Elisabetha Bluntschli draussen in den Sihlwiesen gebracht wird, stellt eine gemauerte bühnenartige Stätte dar. Raben-Stein heisset der Orth deswegen, weil die Raben derer auf Räder allda gelegten, oder an Galgen gehengten Cörper zerhacken und fressen, auch sich deshalber an solchen Orthen häufig einfinden und aufhalten. Anm. 125 Tatsächlich stösst der Maleficant zuletzt oft auf die Reste seiner Vorgänger. Elend, Todesgrauen und Verwesung, die blosse Örtlichkeit bereits will entsetzen, damit sie, dem Opfer zu spät, immerhin andern bösen gott- und ruchlosen Buben ein Schrecken und Warnung sey, von ihren Ubelthaten abzulassen und solchen Straffen zu entgehen. Anm. 126

Anm. 125 Döpler, Theatrum Poenarum, S. 602. Vgl. dazu Ruoff, Hauptgrube, S. 222 und Schild, Gerichtsbarkeit, Abb. 6.
Anm. 126 Lünig, Theatrum ceremoniale, S. 1403af.

Auch innerhalb der Stadt wird Blutgericht gehalten, auf Marktplätzen, vor dem Rathaus, beim Pranger oder Roland, dort also, wo die üblichen öffentlichen Abstrafungen stattfinden. Bevorzugt sind es politische Fälle, mit Unruhen und Aufständen in Zusammenhang, die intra muros erledigt werden. In Kriegswirren, unter Belagerung, auch bei Seuchengefahr kann sich die Strecke zur gewonlichen Richtstatt verbieten; nachdem die Sihlbrücke in den Fluten versunken war, musste im Jahre 1562 einmal auf dem Zürcher Fischmarkt gerichtet werden. Franciscus Sutter, der Verfasser einer Schönen Underweisung armer Menschen, vergleicht in seiner »Under-Irrdischen Goldgrub« (1701) das Vorgehen der göttlichen Gerechtigkeit mit dem der menschlichen und gibt zu bedenken, wie eine hochweise Oberkeit ein gewiß Orth hat, allwo sie die Ubelthäter nach beschaffenheit ihrer begangenen Missenthat abstraffet, darneben aber auß vernünfftigen Ursachen bißweilen einen hie, den andern dort hinrichten lasset. Anm. 127

Anm. 127 Sutter, Goldgrub, S. 20f.

Die gewiße Richtstätte liegt in der Regel ausserhalb der Stadt, extra muros. Einer, dem das Leben abgesprochen ist, wird durchs Stadttor ausgeführt. Eulenspiegel zum Beispiel in Lübeck: Als nun der Gerichtestag kam, daz man Ulenspiegel ußfieren solt und solt ihn hencken … Anm. 128 In einem Gebet von 1731, von einer verurteilten Frau vor dem Außgang aus der Gefangenschafft Wort für Wort nachzusprechen, heisst es: Meine Füsse, die den Weg der Ungerechtigkeit gewandelt, werden alsbald den Gang deß Todes verrichten, und ich werde ausgeführet, wo die sterben müssen, die under den Menschen zu leben nicht mehr werth sind. Anm. 129 Angespielt ist damit auf das Schriftwort vom Land der Lebendigen (Is 53,8; Ier 11,19), aus dem die Missetäter auszustossen sind. Auszustossen, im Buch Deuteronomium (17,5) lautet die Weisung: Wer Schlimmstes verübt hat, ist aus den Toren der Stadt hinauszuführen (educere ad portas civitatis) und zu steinigen. Brunnemann, der dieses Gebot der Ausführung zum Tode des großen Gottes Erinnerung an den Richter damals und zu jeder Zeit nennt, übersetzt den Passus folgendermassen: Wan dir wird angesagt (nehmlich eine begangene Ubelthat) und hörest es, so soltu wohl darnach fragen. Und wan du findest, daß es gewiße wahr ist, daß solcher Greuel in Jsrael geschehen, so solt du denselben [d.h. den Übeltäter] ausführen. Anm. 130

Anm. 128 Eulenspiegel (hg. von v. Zobeltitz), S. 167.
Anm. 129 Gebätt von Rosina Grätz, in: Wahrmund, Letzte Rede, S. 14.
Anm. 130 Brunnemann, Anleitung, S. 56.

Mit der paulinischen Lehre vom Schwert der Obrigkeit (Rom 13) verknüpft, wird die göttliche Erinnerung aus dem Alten Bund zum klassischen Argument in der theologisch-rechtlichen Begründung der Todesstrafe im Neuen: Gestalt denn der gerechte GOTT selbst die Verordnung gemacht, daß diese und dergleichen Ubelthaten peinlich gestrafft, und das Böse aus dem Lande weg gethan werden soll, deßwegen Er auch der Obrigkeit das Schwerd gegeben und anbefohlen hat, daß sie dasselbe zur Rache gegen dem, der Böses thut, gebrauchen soll. Anm. 131 Dem wird, der Verstärkung halber, ein Pfarrer anfangs des 19. Jahrhunderts den Topos Gen 9,6 (Wer Menschen Blut vergeusset …) hinzufügen, und das peinliche Strafverfahren, das dem Täter, einem zur Zeit der Rede unbekannten Doppelmörder, in Aussicht steht, ist schrifttheologisch stringent in Kürze dieses:

Wie ein reissendes Thier reißt man ihn los von aller Verbindung mit Menschen, wirft ihn in finstern Kerker, wo Fesseln an seinen Gliedern klirren, und führt ihn hinaus an den grausen Ort unauslöschlicher Schande, wo er sein schreckliches Leben, verurtheilt von der Obrigkeit, unter den Händen des Scharfrichters schmachvoll endet; denn wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll wieder durch Menschen vergossen werden. Anm. 132

Anm. 131 Döpler, Theatrum poenarum, S. 165.
Anm. 132 Walser, Predigt, S. 10.

Das reissende Tier, zu dem ein Mensch als Mörder entartet, muss aus dem Kreis der Menschen hinausgeführt, schärfer noch: ausgestossen und hinausgestossen werden. Hinausgestoßen mußten sie werden aus der Gesellschaft, deren Ruhe, deren Eigentum, deren Leben ihr längeres Dasein in immerwährende Gefahr gesetzt hätte. Die Rede ist von vier Raubmördern und ihrer Exekution im Jahre 1812. Anm. 133 Der gütliche Aspekt der Ausführung als Geleit und Begräbnis – ußhinfüren (1607), Hingang nach der Richtstätte (1808) – tritt hinter dem der streng und unerbittlich zu vollziehenden Ausgrenzung des Bösen, des gesellschaftlich Bedrohenden und Schädlichen zurück. Ein Wort aus Luzern vom Jahre 1842 ist nicht anders akzentuiert: Anton Senn von Bürglen, aus dem Kanton Uri, ist gerichtet. Er ist ausgestossen worden aus der Gesellschaft der Lebenden. Anm. 134

Anm. 133 Vgl. Rede von Christian Theodor Wolf, zit. in: Boehncke, Räuberbanden, S. 1012.
Anm. 134 Sigrist, Weg zum Blutgerichte, S. 3.

Die Ausführung des Maleficanten (eductio) erfolgt aus dem Stadtinnern durchs Stadttor, meist das Haupttor, zum Ort der Hinrichtung vor dem Thor im Felde. Anm. 135. Der Holzschnitt des Wolfgang Katzenheimer in der Bambergischen Halsgerichtsordnung (1507) erfasst den prägnanten Augenblick und gleichsam das Gelenk im Ritus des letzten Uebergangs: den armen, zum Zeichen seines Elends barfüssigen Menschen beim Verlassen des Tores. Der Fronbote, den Stab in der Rechten, geht voran. Anm. 136 Zwischen dem kirchlichen Tröster, einem Barfüssermönch, zur Rechten und dem Scharfrichter, mit Richtschwert, zur Linken folgt am Strick gebunden das Opfer. Der Zug der Schöffen, der Bürger und das gesamte wimmelnde Volk schliesst sich an. Die vormoderne wie die mittelalterliche Stadt stösst unter dem Tor auf ihre Aussen- und Gegenwelt. Das Tor, als eine ›zone sacré‹ geheiligt, trennt und verbindet ineins innen und aussen; es ist die rituell ausgezeichnete Stelle im Uebergang der Räume (›rite de passage‹ Anm. 137).

Anm. 135 Döpler, Theatrum poenarum, S. 454.
Anm. 136 Vgl. Buchda, Art. Fronbote, in: Handwörterbuch der Deutschen Rechtsgeschichte 1, 1971, Sp. 1304–1306.
Anm. 137 Vgl. van Gennep, Übergangsriten, S. 25–33.

Die Stadt stellt den Raum von Zivilisation und humaner Gesittung dar; von aussen droht das Wilde und Wüste (wo jetzt die Schakale sich lagern, Ies 35,7). Wer rechtskräftig verbannt ist, hat kein Haus und keine Bleibe, das Elend ist sein Los (ahd. elilenti, in einem andern Land), er kennt weder Schutz noch Sicherheit. Krankheit wird ausgegrenzt, ausserhalb der mittelalterlichen Stadt werden Hospitäler, Leprosen- und Siechenhäuser eingerichtet. Anm. 138 Im Innern wohnt das Recht (vride, êre, vriheit); Ehrlosigkeit und Schande, die unehrlichen Leute, werden ausgeschieden. Die Stadt symbolisiert Glück und Leben. Jerusalem, die himmlische Stadt, verheisst beides in letzter Vollkommenheit. Vor der Stadt, draussen vor dem Lager (Num 15,35), drohen Tod, Unglück und Klage, Heulen und Zähneknirschen. (Dass die Stadt auch gefährlich ist und ausserhalb Gefahren, aventiuren, mit Glück zu bestehen sind, steht auf einem andern Blatt.) In der Stadt wird Recht gesprochen, extra muros wird es blutig vollstreckt.

Anm. 138 Irisgler, Bettler und Gaukler, S. 69–72.

Der Galgen im Feld zeugt von der städtischen Blutgerichtsbarkeit. Er stand nicht nur aus Aberglauben oder zur Abschreckung so weit sichtbar auf dem 'Galgenberg', sondern man war auch stolz auf ihn: war er doch Zeichen für das Recht, die 'Halsgerichtsbarkeit' auszuüben. Anm. 139 In die selbe Richtung weist ein Zeugnis des 17. Jahrhunderts: Jene Statt ist Ruhmwürdiger, welche die Dieb nit darinn leydet, sondern zum Zeichen ihrer gehaltnen Gerechtigkeit darfür hinauß an Galgen last hencken, so ist demnach […] ein Hauß nach Außschaffung der vngerathnen lobwürdiger, ein Statt nach Außführung der Dieb reiner […]. Anm. 140 Mit jeder Ausführung reinigt die Stadt sich selber von neuem. Verbrechen und Schuld werden nach aussen abgeleitet, exportiert an die Stätte der Schmach und der Schrekken. Anm. 141

Anm. 139 Schild, Gerichtsbarkeit, S. 198.
Anm. 140 von Deggendorf, Paradeyß-Garten, S. 812.
Anm. 141 van Gennep, Übergangsriten, S. 158.

Analog zu den Zeremonien von Totengeleit und Bestattung vollzieht sich der Durchgang durchs Tor als ein Ritus der Trennung. Der Uebergang setzt ein mit einer Phase der Ablösung (›rite de séparation‹'). Die Henkersmahlzeit, die Spenden aus der Hand des andächtigen Weiber-Volckes für den armen Menschen, Anm. 142 das Schneiden der Haare (die ominöse Haarscheererei), das Zerbrechen des Stabes, das alles sind Elemente und Szenen ritueller Ablösung. Kurz vor dem Rennwegtor in Zürich, dem Hauptpaß der alten Stadt, Anm. 143 war es, uß erbarmendem Gmüt, seit Generationen der fromme Brauch, den Verurtheilten zum Todt im Ußhinfüren Confect und einen Trunck zu reichen. Anm. 144 Vom Hingang des Caspar Lier (1774–1808), eines zur Freidenkerey und Atheisterey geneigten Geistes, berichtet der Pfarrer der Heimatgemeinde:
Vor dem Rathhause, als er die Worte Vater von zwey Kindern hörte, hob er seine Augen zum Himmel empor, schlug die Hände zusammen und rief: Ja wohl zwey armer, unglüklicher Kinder!

Nach dem Gang über die Gemüsebrücke, durch die Strehlgasse und den Rennweg:

Beym Rennwegthor, wo er zulezt seine Wohnung gehabt hatte, erblikte er seine dortigen bekannten Hausgenoßen, und ruft laut zu ihnen: ›Sie solten ihm verzeihen und für ihn betten.‹ Außer dem Thore anerbot man ihm einen Trunk Weins, aber er trank lieber Wasser von dem dortigen Brunnen, von dem er sich früher öfters erlabet hatte. Weiterhin blikte er an ein Haus hinauf, und äußerte voll feuriger Bewegung: ›'Dieß Haus war mein Unglük!‹ Anm. 145

Anm. 142 Vgl. van Gennep, Übergangsriten, S. 3 (Brote der Frauen).
Anm. 143 Das Rennwegtor wurde als letztes in Zürich im Jahre 1866 geschleift. Vgl. Kraut, Rennwegtor, S. 12.
Anm. 144 Corrodi-Sulzer, Servitut, S. 255.
Anm. 145 Scheuchzer, Predigt, S. 14.

  • Vor dem Tor soll der Maleficant nochmals sich stärken. … hart an dem Thor/ dort gab man jhn (ihnen) zu trinken, präzisiert ein Bänkellied vom Jahre 1664. Anm. 146 Nach Benedikt Carpzov ist es ein Labetrüncklein von Wein oder anderm geträncke; ein fleschlin Süsswein war es 1671 in Schwäbisch Hall; das Berner Ceremoniale von 1798 sieht Hofmanns-Tropfen oder andere stärkende Getränke vor. Anm. 147 Katzenheimers Holzschnitt zur Bambergischen Halsgerichtsordnung zeigt den Mönch mit einem fleschlin an der Hand, dem Requisit, das in Nürnberg einer der Henkersknechte verwaltet. Der Löwe führt dort laut städtischem Protokoll von 1463 das Bahrtuch, die Flasche mit der Labung für den Armen, sowie den Schlüssel zum Hochgericht Anm. 148 mit sich. Spendet ihn der geistliche Tröster, so ist es der Sterbewein zur Stärkung des armen Sünders (in confortationem animae), für dessen Segnung Martin von Cochem O.F.M. Cap. einen eigenen kleinen Text kennt. Anm. 149

Anm. 146 Erschröckliche newe Zeittung, Nürnberg 1664.
Anm. 147 Carpzov, Inquisitions- und Achtsprozess, S. 192.
Anm. 148 Knapp, Lochgefängnis, S. 67.
Anm. 149 Vgl. Martin von Cochem, Fürbereitung zu einem seeligen End, S. 401.

Hinrichtung von Joseph Süß Oppenheimer am 4. Februar 1738

Hinrichtung von Joseph Süß Oppenheimer am 4. Februar 1738 – zu beachten: der Wein.
Ähnliches Bild: Curieuse Nachrichten aus dem Reich der Beschnittenen Erste Unterredung Zwischen Sabathai Sevi Einem in dem vorigen Seculo in den Morgenländern Höchst-berüchtigt gewesenen Jüdischen Ertzbetrüger; Und dem fameusen Würtenbergis[chen] Avanturier, Jud Joseph Süß Oppenheimer, Worinn dieser beeder beschnittenen Spitzbuben Leben und Begebenheiten entdecket, […] Gedruckt zu Cana in Galiläa 1737. http://reader.digitale-sammlungen.de/resolve/display/bsb10050296.html

Für den Maleficanten bedeutet der ›rite de passage‹ seiner Exekution den unwiderruflichen Ausgang und Übertritt vom Leben zum Tod, aus dem vergänglichen in das ewige Leben. Ihn hier und jetzt noch zu trösten, mit Trost zu laben, heisst, seine geängstete Seele auf den nahen Uebergang in die Ewigkeit zu entlassen, gerüstet mit gedult, in der gläubigen Erinnerung der peyn Christi. Anm. 150 Nun, der Herr segne euch und behüte euch etc., mag der Priester zum Schluss mit ihm beten: Der Herr bewahre euren Ausgang aus dieser Zeitlichkeit, und euren Eingang in die ewige Freud und Seligkeit! GOtt Vater, was du erschaffen hast etc. Amen! das ist, es werde wahr etc. Amen! Anm. 151

Anm. 150 Vgl. Abb. in: Hinkeldey, Justiz, S. 425: Holzschnitt von Wolfgang Katzenheimer aus der Bambergischen Halsgerichtsordnung, 1508.
Anm. 151 Haas, Seelen-Hirte, S. 230.

Dem Maleficanten und ebenso denen, die ihn christlicherweise begleiten, veranschaulicht das Stadttor kraft des Glaubens Tod und Auferstehung von den Toten, mit einem Wort des Andreas Musculus: das grab sich nahet, als das stadtthor unsers rechten vaterlands. Anm. 152 In Katzenheimers Darstellung deutet der Geistliche mit der Linken auf das Kruzifix. Er stellt dem Sünder die peinliche Nachfolge dessen vor, den sie ausgeführt haben wie einen Verbrecher, wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt (Is 53,7; Joh 1,29). … vnd füreten jn aus, das sie jn creutzigten (Marc 15,20). Ein solches Crucifix ist an der Rundel oder Bollwerk des Rennweger-Thors, neben der Bruck, samt der Bildnuß Christi sauber in Stein gehauen, gewesen. Und so man einen armen Maleficant zum Tod geführt, wurde er auf der Bruck bestellt, und ihme das Creutz gezeiget, sich des Leydens Christi erinnern. Anm. 153

Anm. 152 Musculus, Vom Himmel und der Hellen, zit. in: Deutsches Wörterbuch (Grimm) 17, 1919, Sp. 505.
Anm. 153 Bluntschli, Memorabilia Tigurina, S. 97. Digitalisat: http://www.e-rara.ch/zut/ch18/content/titleinfo/9319622