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Gott und der Welt gefallen: Diese doppelte Referenz ist ein Kulturspezifikum des 'christlichen Mittelalters' (Hofbauer). Die Untersuchung der Wechselbeziehungen zwischen genuin geistlichen und genuin weltlichen Traditionen gehört seit langem zum Kernbestand der germanistisch-mediävistischen Forschung. Diese Wechselbeziehungen sind vielfältig, was nicht zuletzt daran liegt, dass die Unterscheidung geistlich/weltlich, die für die volkssprachige Literatur um 1200 in der Differenz von christlicher Religion und höfischer Kultur prägnant wird, asymmetrisch ist, und zwar auf verwickelte Weise. Das Verhältnis lässt sich auch mit synchronem Fokus am ehesten unter Zuhilfenahme dynamischer Prozessbegriffe fassen. Aber dies setzt Modellannahmen, zumindest im Sinne von Heuristiken, voraus, deren Adäquatheit wiederum erst zu erweisen ist. In jüngster Zeit wurde die allenthalben angenommene Dominanz der christlichen Religion gerade im Zusammenhang einer höfischen Kultur hinterfragt (vgl. Müller). Bedeutet dies aber, auf der anderen Seite, bereits eine 'Autonomie' höfischen Erzählens, als dessen 'Funktion' das Religiöse dann erscheint (vgl. Knaeble)?
Noch immer zeigt sich die Forschung geprägt von Hierarchisierungsdiskursen, die dem Ineinander von Geistlichem und Weltlichem nicht hinreichend Rechnung tragen können. Zwar wissen wir, dass das Mittelalter selbst "die Gegenüberstellung von Immanenz und Transzendenz nicht einfach vorgefunden hat, sondern in komplexen Verfahren theoretisch begründet, symbolisch inszeniert und literarisch dargestellt hat." (Hasebrink, S. 442.) Beim Sichten einschlägiger Forschung stellt man jedoch fest, dass eben diese zwischen verschiedenen Diskursen wie auf verschiedenen medialen Ebenen situierten 'komplexen Verfahren' der Differenzierung wie Entdifferenzierung selbst für weite Teile mittelalterlicher Literatur erst noch zu untersuchen sind. Die Herausforderungen liegen dabei sowohl in einer möglichst konkreten Erfassung und Beschreibung von Diskursen mit ihren jeweiligen sozialhistorischen Einbettungen wie ihren Verschränkungen (Dichtung, Religion, Theologie in Theorie und Praxis) als auch darin, Phänomene von Wechselbeziehungen, Grenzüberschreitungen, Spielräumen, Interferenzen diesseits einer scharfen Differenz 'weltlich/religiös' zu denken und zu beschreiben. Das seinerseits komplexe Verhältnis von Latinität und Volkssprache bildet dabei den medialen Rahmen und ist stets einzukalkulieren.
Der jüngste Vorschlag von Susanne Köbele und Bruno Quast, Säkularisierung für das Mittelalter "dezidiert als Literarizitätsphänomen" (S. 14) zu denken und damit die Aufmerksamkeit auf prozessuale Phänomene der semantischen und konnotativen Umbesetzung (etwa Dynamiken von De- und Re-Sakralisierung) zu lenken, bietet wertvolle Anregungen, wie zur Bestimmung mittelalterlicher Literarizität und Poetizität die sich eröffnenden Spielräume weiter ausgelotet werden könnten. Dass dabei der Begriff der Säkularisierung letztlich auf einer Differenzlogik gründet, macht die Schwierigkeit umso deutlicher, sichdie Heuristik unserer Kategorienbildungen wie 'weltlich/geistlich', 'immanent/transzendent' oder 'profan/heilig' und die Setzungen, die sie implizit transportieren, bewusst zu halten:Kann man diese Differenzlogik umgehen, ohne 'schwammig' zu werden? Denn natürlich gibt es - je nach Autor, Textsorte, Kontext etc. - Unterschiede im Grad und in der Ausprägung religiöser Bezüge.Von welchen Annahmen also kann literaturwissenschaftlich ausgegangen werden, ohne zirkelschlüssig zu argumentieren?
Zur Vermessung der Diskrepanzen zwischen den behaupteten Einheitsphantasien und den trotz des Bemühens um Ausgleich feststellbaren Spannungen oder Widersprüche schlagen wir eine Dreiteilung der Fragestellung vor:
Von diesem Vorgehen erwarten wir uns für die übergeordnete Frage nach den Idiosynkrasien, also den nicht generell, sondern textbezogen feststellbaren 'Eigenmischungen', mehrfache Aufklärung. Für die erste Fragestellung ist eine Revision und Präzisierung von Verlegenheitsformulierungen zu erwarten, wie etwa der Rede vom 'Quasi-Typologischen' in Gottfrieds von Straßburg Tristanoder von einer 'Laientheologie' in Wolframs Parzival, wo die Anführungszeichen und Attribuierungen einen Abstand zum terminologischen Gebrauch der Begriffe anzeigen, ohne diesen Abstand jedoch genauer in den Blick zu nehmen.Außerdem kann hier gefragt werden: Welcher Stellenwert kommt religiösen Narrativen im höfischen Roman zu? Die alten Forschungspositionen einer 'geistlichen Allegorese' des ritterlichen Weges sind unter kulturwissenschaftlichen Vorzeichen aufgegriffen und neu perspektiviert worden (Friedrich 2014). Auch an das Problem der 'Rolle Gottes' (Theisen) im und für den höfischen Roman ließe sich aus vielfältigen, komparatistisch erweiterten Blickwinkeln anschließen (vgl. Hausmann).
Die dritte Fragestellung schließlich soll mit Blick auf die Oberfläche der Texte Wesentliches zu einer historisch adäquaten Einschätzung ihrer Faktur leisten. Dabei geht es um historisch-narratologische Fragen, wobei ein grundsätzlich komparatistischer Ansatz nötig ist. Inwiefern lassen sich in Bezug auf Figuren, Zeit, Raum und Handlung mittelhochdeutscher Erzählungen 'Vorbilder' oder Muster in lateinischen und französischen Erzählungen ausmachen (Hamm)? Fragen nach der Poetik und weitergehend der Ästhetik volkssprachiger Erzählungen sollen versuchsweise nicht durch Rekurse auf theologische oder philosophische Kontexte, sondern mit Bezug auf Erzählpraktiken und -routinen geklärt werden, die die Verfasser mittelhochdeutscher Texte kannten (Glauch, Hamm).
Gemeinsam ist allen drei Fragestellungen, dass sie textbezogen herkömmliche Entscheidungen und Sortierungen der Literaturgeschichte gezielt zurücksetzen, um zu präzisen Verortungen der Idiosynkrasien zwischen Gott und Welt zu gelangen. Dies bedeutet, die letztlich auf Selbstbeschreibungen der Zeit zurückgehende Inselstellung bestimmter hochhöfischer Erzähltexte - Veldeke, Hartmann, Gottfried und Wolfram - zu überwinden und sie innerhalb des Felds von Dichtung zu beschreiben, in das sie gerade in analytischer Perspektive zu stellen sind. Allein mit Blick auf Veldeke liegt eine eigentümliche Gemengelage vor, die diesseits einer Unterscheidung 'geistlicher' und 'weltlicher' Texte Erzählverfahren ganz grundsätzlich in den Blick nehmen lässt, die aus dezidiert lateinischen Traditionen stammen. Weitere synchrone Schnitte sind möglich: So erlaubt etwa die Berücksichtigung der Überlieferungssituation um 1200 mit legendarischen Texten wie Ottos von Freising Barlaam und Josaphat und mit ihren eigenständigen Redaktionen bibelepischer Werke wie Konrads von Fußesbrunnen Kindheit Jesuoder Priester Wernhers Mariaden Blick auf eine "religiöse Erzählwelt" (Henkel 1996, S. 20), deren Formierung sich gleichzeitig zur Etablierung des höfischen Romans vollzieht. Beispiele von Überlieferungsgemeinschaften 'geistlicher' und 'weltlicher' Texte wie dasjenige des St. Galler Codex 857 zeigen einmal mehr die Notwendigkeit einer Betrachtung des 'literarischen Lebens' um 1200 jenseits problematischer Gattungskategorisierungen, zeigen das Ausmaß perspektivischer Verengung durch unsere Ordnungsbegriffe, deren heuristischer Einsatz im Sinne der Forschungspragmatik unbestritten legitim ist, deren stillschweigende Verfestigung aber anhand von Symptomen wie beispielsweise der notorisch unspezifischen Benutzung des Erbauungsbegriffs in der mediävistischen Forschung (Köbele 2015) überdeutlich wird.
Der intrikaten Gemengelage von 'Geistlichem' und 'Weltlichem' ist für die Literatur des Mittelalters nur anhand präziser Fallstudien beizukommen. Besonders willkommen sind uns daher an konkreten Textbeispielen entwickelte Untersuchungen, die zugleich komplexe Theoriehorizonte eröffnen. Einen methodischen Niederschlag der oben entwickelten Perspektiven wünschen wir uns in der Fokussierung auf eine der genannten Fragestellungen, die in einem möglichst komparativen Vorgehen bearbeitet werden soll (mind. zwei Texte sind vergleichend zu betrachten). Um die Vergleichbarkeit der Einzeluntersuchungen wiederum zu gewährleisten, beschränken wir uns auf die Zeit zwischen 1140 und 1220. Explizit verzichten wir damit auf eine Öffnung des Blicks bis in die Frühe Neuzeit, wie sie etwa zuletzt die Freiburger Tagung 'Vielfalt des Religiösen. Mittelalterliche Literatur im postsäkularen Kontext' (veranstaltet von Bent Gebert und Susanne Bernhardt) mit dem Schwerpunkt auf einer innerreligiösen Differenzierung ermöglicht hat. Diese Beschneidung verspricht den für unsere Themenstellung entscheidenden Gewinn einer Konzentration auf die frühmittelhochdeutsche Literatur und deren Fortwirken bis in die Zeit um 1200 einerseits, auf die Literatursituation um 1200 in all ihrer Breite und Differenziertheit andererseits.
Nur in dieser Konstellation kann auf drei Desiderata der Forschung geantwortet werden:
Die Rede von der 'Emergenz von Erzählkonzepten' zielt also auf die Beschreibung möglicher 'Genealogien' höfischer Erzählkonzepte genauso wie auf die Bestimmung von im Kontextabgleich spezifisch 'Neuem', ist mithin als Anregung zu diachron wie synchron angelegten Beiträgen zu verstehen.