Navigation auf uzh.ch
Einer weitverbreiteten disziplingeschichtlichen Ansicht gemäß hat die sogenannte kulturwissenschaftliche Öffnung gerade der Germanistik, wie sie seit den 1980er Jahren im Zusammenhang einer auch theoretisch interessierten Debatte betrieben wurde, dazu geführt, dass der Textbegriff er- und ausgeweitet wurde. Dies konzedieren zumeist selbst diejenigen, die dem ideologischen und/oder wissenschaftstheoretischen Hintergrund eben dieser Entwicklung kritisch gegenüberstehen.
Man könnte mit gewissem Recht die Entwicklung der deutschen Philologie aber auch so akzentuieren, dass in einem kontinuierlichen Prozess bereits seit den 1960er Jahren in verschiedenen literarhistorischen Zusammenhängen sowohl eine Abkehr von der ausschließlichen Beschäftigung mit dem ‚Höhenkamm‘ vollzogen wurde als auch bestimmte, für die jeweilige Literatur wesentliche Kontexte erschlossen wurden. Einige dieser Forschungstendenzen werden auch unter dem Rubrum eines ‚cultural turn‘ fortgeführt, der für sie durchaus nicht ursächlich ist; allerdings haben sich die methodischen Grundlagen deutlich verändert. Angesichts der Tatsache, dass – erstens – keine zwanzig Jahre nach dem ‚Tod der Geistes- und Sozialwissenschaften‘ eine übergreifende Kulturgeschichte schon für ‚erschöpft‘ gelten kann, während Klassiker der kunst- und literaturhistorischen Sozialgeschichte neu aufgelegt werden, – zweitens – die methodologische Reflexion über kulturwissenschaftliche Herangehensweisen zu einem gewissen Stillstand gekommen ist und – drittens – auch die Protagonisten einer kulturwissenschaftlichen Germanistik zu einer dezidiert literaturwissenschaftlichen, wo nicht philologischen Praxis zurückgekehrt sind, bietet es sich an, nach dem Stand der methodischen Klärung zentraler Aspekte literaturwissenschaftlichen Arbeitens zu fragen, die den Problemzusammenhang von literarischem Text und außerliterarischem Kontext berühren.
Ansatzpunkt der kritischen Revision ist zum einen ein Zweifel gegenüber einem Textbegriff, der die qualitativen Differenzen nicht allein zwischen begrifflichen und literarischen Reflexionsformen, sondern gar zwischen getrockneten Blumen und Goethes römischen Elegien nicht mehr zu fassen vermag. Zum anderen aber ist auch die Konzeption dessen, was als ‚Kontext‘ gelten kann, weiter zu differenzieren; gerade angesichts der gegenwärtigen Konjunktur des ‚Realen‘ ist zu fragen, in welcher Weise die Literaturwissenschaft auf den Unterschied zwischen Realien und Ideen reagiert, auch wenn Text-Kontext-Modellierungen immer fallbezogen vorgenommen werden müssen. Wie dringend nötig eine Klärung dieser Fragen ist, zeigen avanciertere Theoriebildungen der jüngeren Zeit.
Für die germanistische Mediävistik hat sich Jan-Dirk Müller mit seiner Monographie Höfische Kompromisse vorgenommen, „das abgebrochene Projekt einer Sozialgeschichte der Literatur unter neuen Prämissen und mit erweitertem Fragehorizont“ (Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 2) fortzusetzen, dann aber den Bezug zwischen eher vagen „übergreifenden kulturellen Konstellationen“ (ebd., S. 22) und den ‚Erzählkernen‘, die in den Texten ausgemacht werden können, von Cornelius Castoriadis’ Konzept des Imaginären her entwickelt. Müllers Analysen gehen entsprechend der diffusen, zwischen Realien und Ideen nicht hinreichend unterscheidenden, ganz allgemeinen Konzeption schließlich von den Textoberflächen aus, ohne dass eine befriedigende sozial- oder ideengeschichtliche Verankerung von Fragestellungen wie Befunden erreicht würde. Vergleichbares gilt für die in der neugermanistischen Aufklärungsforschung prominenten methodischen Ansätze zu den ‚Sachen der Aufklärung‘. Ausdrücklich soll in diesem auf Bruno Latour fußenden Ansatz ein entscheidendes Verknüpfungsproblem der Geistes- und Sozialwissenschaften, die Vermittlung nämlich von „Geistigem und Materialem, Kunst und Gesellschaft, Theorie und Praxis“ gelöst werden (Daniel Fulda: Sache und Sachen der Aufklärung. Versuch einer Antwort auf die Frage, wie sich Programm und Praxis der Aufklärung erforschen lassen. In: Stefanie Stockhorst [Hg.]: Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung. Göttingen 2013, S. 241–262). Auch hier aber geht vor dem Hintergrund eines universalisierten Diskursbegriffes nicht allein der Unterschied zwischen Ding und Begriff verloren; der Begriff der Sache als res ist derart allgemein, dass keine präzise Frage aus dieser Perspektive zu entwickeln ist.
Die uns nötig erscheinende Revision geschieht natürlich nicht voraussetzungslos, sondern kann an vieles anschließen. Zu den innovativen methodischen Perspektiven auf Literatur im engeren Sinne gehörten vor dem ‚cultural turn‘ zum einen die bereits erwähnte Sozialgeschichte, der bis zum Ausruf des ‚cultural turn‘ gar nicht genug Zeit geblieben war, das eigene Paradigma zu entwickeln. Allerdings tendierte die von Schönert, Titzmann oder Ort entworfene, an die Soziologie Pearsons anknüpfende Sozialgeschichte der Literatur in hohem Maße zu einem Formalismus, der weder in die Germanistik noch in andere Philologien zu vermitteln war; auch der interdisziplinäre Austausch selbst mit der Geschichte blieb ein Randphänomen; kurz: diese Sozialgeschichte der Literatur kam – bei aller Verwissenschaftlichung gegenüber den Tendenzen der 1970er und 1980er Jahre – über einen Außenseiterstatus, betrieben von einigen wenigen Experten, nicht hinaus. Eine sozio- und politikhistorische Perspektive auf Literatur muss aber nicht nur für andere, vor allem realhistorische Fächer, sondern auch für andere Kunstfächer und Reflexionsfelder in Frage stehender Epochen anschlussfähig bleiben und daher jenes formalisierte Expertentum durch die strenge Ableitung der Kategorien aus einer spezialisierten Soziologie vermeiden. Eine nach dem Ende der Kulturwissenschaften erneut mögliche und erforderliche gesellschaftsgeschichtliche Interpretation von Literatur könnte diese Einengungen der bisherigen Sozialgeschichten hinter sich lassen, gerade indem sie sich nicht zu einem neuen, anderes ausschließenden Paradigma erklärt, sondern ihre Notwendigkeit für den hermeneutischen Prozess ebenso begründet und belegt, wie sie um ihre Ergänzungsbedürftigkeit durch eine ideengeschichtliche Hermeneutik je schon weiß.
Vergleichbares gilt für die ideengeschichtlichen Kontextualisierungsbemühungen der letzten Jahrzehnte. Entweder unterwarf man sich als Formationen der Wissensgeschichte den zumeist skeptizistischen Kategorien der Kulturwissenschaften, erweiterte damit aber den Idee- bzw. Diskurs- oder Wissensbegriff (zumeist Synonyma für ein und dasselbe) bis ins Unspezifische. Damit wurden die literarischen Gegenstände der Analyse und Interpretation allerdings lediglich zu einer Erscheinungsform des ‚Wissens‘, deren Besonderheiten gegenüber anderen, wissenschaftlichen oder populären Diskursen ohne Berücksichtigung bleiben konnte und musste. Wie für die die bisherigen Formationen der Sozialgeschichte wird für eine kulturwissenschaftliche Wissensgeschichte – ebenso wie für eine sogenannte analytische Literaturanthropologie – der literarische Gegenstand zu einem Instrument von Nachweisinteressen herabgestimmt, die jenseits der Literatur und ihrer Geschichte zu finden sind. Dies gilt selbst für eine an ältere Traditionen anknüpfende ideengeschichtliche Hermeneutik, die dezidiert gegen jede Form von Sozialgeschichtsschreibung auftritt, gleichwohl vor allem weltanschauliche – zumeist theologische – Interessen kultiviert vertritt. Diese Tendenz war in der Mediävistik gerade der Nachkriegszeit recht dominant, die Abkehr von ihr führte im kompensatorischen Pendelschlag zur Forcierung poetologischer Lektüren, die sich jeglicher ideen- (wie sozial-)geschichtlicher Anbindung verweigern.
Demgegenüber soll in der hier anvisierten Konzeption einer Vermittlung von ideen- und sozialgeschichtlicher Kontextualisierung literarischer Texte im Prozess der Analyse und Interpretation einzelner Texte