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Spätestens seit Jean Pauls Definition in der Vorschule der Ästhetik (1813) hat sich die überlieferte Gattung der Idylle aus ihren arkadischen Szenerien herausgelöst: Für die Idylle ist der Schauplatz gleichgültig, "ob Alpe, Trift, Otaheiti, ob Pfarrstube oder Fischerkahn - denn die Idylle ist ein blauer Himmel." An der Schwelle des neunzehnten Jahrhunderts wird die Gattung damit zu einem Wahrnehmungsdispositiv transformiert. Das Idyllische kann als "epische Darstellung des Vollglücks in der Beschränkung" (Jean Paul) in alle Winkel der erzählten Welt einwandern und seine Wirksamkeit vor allem in der Prosa entfalten. Seine erstaunliche Konjunktur im langen neunzehnten Jahrhundert ist erklärungsbedürftig, gehen doch seine dezidierte Neupositionierung in der bürgerlichen Sphäre, seine Verpflichtung auf das gegenwärtige realistische Literatursystem und sein ebenso ausgeprägtes Modernebewusstsein (seit Schiller, Herder, Goethe, Jean Paul und Hegel) einher mit der poetologischen Selbstreflexion seiner historischen Unmöglichkeit in der ausdifferenzierten bürgerlichen Welt der Moderne.
Umso auffälliger ist der Befund, welch zentrale Rolle idyllische Konstellationen in der Prosaliteratur des Realismus spielen. So eng ist die Verbindung von deutschsprachigem Realismus und Idylle, dass sich die realistische Poetik mit ihrer Verpflichtung auf das Aufsuchen "grüne[r] Stellen mitten in der eingetretenen Prosa" (F. Th. Vischer) und ihrer Vorliebe für das historisch Abseitige und bescheiden Alltägliche geradezu als Narrativierung des idyllischen Paradigmas beschreiben lässt. Der abgelegene Winkel ist der perspektivische Ausgangspunkt für den Blick in die Welt, die sich im 19. Jahrhundert zur globalisierten weitet. Der gesellschaftliche Anspruch der idyllischen Gemeinschaft im Kleinen muss mit grösseren Kollektiven vermittelt werden oder aber sein Scheitern daran vorführen. Insofern hat das Idyllische im Realismus die Funktion eines kritischen Gegenbilds, seine Konjunktur ist Ausdruck eines Krisenbewusstseins. Das hochgradig emotionalisierte Idyllische leistet dabei die Regulierung affektiver sozialer Energien für das noch nicht konsolidierte, durch die Modernisierung bedrohte bürgerliche Selbstverständnis. Es wird zu einer Art energetischem Speicher, den das Forschungsvorhaben theoretisch mit Jean Paul und Aby Warburg als "Denkraum" beschreiben will.
Das Forschungsvorhaben will sich diesem bislang noch niemals im Zusammenhang untersuchten Problemzusammenhang in zwei Subprojekten widmen. Subprojekt I erarbeitet in einer übergreifenden Monographie (verfasst von Sabine Schneider und Franziska Frei Gerlach) die theoretische Grundlegung für die Leitthese von der dynamischen Rolle des Idyllischen im literarischen Feld des Realismus, ausgehend von Aby Warburgs auf Jean Paul zurückführbarem Konzept des Denkraums, und erweist die diagnostische und interpretatorische Relevanz der Leitthese anhand einer Re-Lektüre des realistischen literarischen Kanons von Jean Paul bis Theodor Fontane. Eine interdisziplinäre Tagung im dritten Projektjahr bringt die komparatistische und kunstwissenschaftliche Perspektive ein. Subprojekt II ist ein Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel Idylle als Habitus. Eugenie Marlitt und die Gartenlaube, das anhand der Zusammenarbeit der erfolgreichsten Autorin der realistischen Unterhaltungsliteratur mit dem wichtigsten Publikationsorgan der Realisten eine beziehungsreiche Konstellation von Genderperspektive (weibliche Autorschaft und vorwiegend weibliches Leserpublikum) und medialer Verkörperung des idyllischen Paradigmas untersucht.