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Deutsches Seminar SNF-PRIMA-Projekt: Theater und Psychosomatik (ca. 1750-heute)

Projekbeschreibung

 

Was ist Dies, wer ist der Leib? Dies, was ich euch zeige, aber alles ‚Dies‘? All das Unbestimmte des ‚Dies‘ und der ‚Dies‘? All Das? Sobald sie berührt wird, wird die sinnliche Gewißheit zu Chaos, wendet sie sich in Sturm, geraten alle Sinne durcheinander. Körper ist die verunsicherte, zerborstene Gewißheit. (Jean-Luc Nancy, Corpus. Übersetzt von Nils Hodyas und Timo Obergöker. 2. Aufl., Zürich, Berlin 2003, S. 10.)

 

Während sich Psychosomatik erst im 20. Jahrhundert als medizinische Fachdisziplin etabliert, hat sie eine deutlich längere Faszinationsgeschichte. Das Projekt untersucht, inwiefern seit dem 18. Jahrhundert die Lehre von den Wechselwirkungen zwischen körperlichen, seelischen und sozialen Prozessen und die Suche nach einem "ganzen" Zugang zum Menschen in der Literatur, besonders im Bereich des Dramas und Theaters sowie der Dramen- und Theatertheorie verhandelt wird. Gefragt wird nach den strategischen Einsatzstellen psychosomatischer Wissensformen und -kontexte: Welche kulturellen Problemstellungen werden anhand des Verhältnisses von Soma und Psyche inszeniert und verhandelt? Welche anthropologischen und politischen Faszinationen sind mit der Vorstellung eines "ganzen Menschen" verbunden? Welche Heilsversprechen und Verdrängungslagen liegen zu Grunde? Welche Wissensbegriffe und disziplinären Zuständigkeitsbereiche sowie epistemologischen Herausforderungen stehen zur Debatte?

An literarischen und medizinischen Texten wird nachgezeichnet, inwiefern Psychosomatik außerhalb der modernen, rein naturwissenschaftlichen Medizin agiert bzw. in spezifischer Weise den Überschneidungsbereich von Natur- und Geisteswissenschaften reflektiert und damit an die alte Verbindung von Medizin und Semiotik anknüpft. Mit textanalytisch-interpretierendem sowie dekonstruktivem Vorgehen wird untersucht, wie im 18. Jahrhundert der Theaterdiskurs mit Fragen der modernen Medizin zusammentritt und damit der auf die Antike zurückgehenden Verbindung von Theater und Affekt eine neue – spezifisch moderne – Ausrichtung gegeben ist, die bis ins 20. Jahrhundert hinein nachgezeichnet wird. Die Faszination für den "ganzen Menschen", so soll in textnahen Einzelanalysen gezeigt werden, beruht nicht einfach auf der Entstehung der modernen Erfahrungswissenschaften und der Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung der Wissenssphären. So versteht das Projekt Psychosomatik als ein Element innerhalb der wissens- und disziplinengeschichtlichen Konstellation des späten 18. Jahrhunderts: im Umkreis der Erfindung der Anthropologie als neuer – medizinischphilosophischer – Wissenschaft vom "Gattungswesen Mensch", agierend im transdisziplinären Überschneidungsbereich von Ästhetik, (Natur-)Geschichte und Lebenswissenschaft. Angelehnt an die wissensgeschichtlichen Überlegungen von W. Lepenies zum "Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften" soll damit das 18. Jahrhundert als Neuausrichtungsphase der Definitionen von "Natur" und "Kultur" und der Gegenstandsbereiche des Naturwissenschaftlichen und Philosophisch-Ästhetischen beschrieben werden (Lepenies 1976). Ausgehend von Friedrich Schiller als systematischem Einstiegspunkt soll gezeigt werden, dass medizinische und literarisch-theatrale Texte um gleiche Fragen kreisen, um Deutungshoheiten ringen sowie am von Schiller dem Theater zugeschriebenen "Zustand des Affekts" den Begriff des Menschen in seinen zugleich biologisch-physiologischen und kulturell-symbolischen Facetten diskutieren; außerdem, dass der Überschneidungsbereich von medizinischem und literarisch-theatralem Diskurs seit dem 18. Jahrhundert Verhandlungsort einer (noch) nicht vollzogenen bzw. beständig zur Debatte stehenden Trennung/Korrelierung von Körper und Geist, Natur und Kultur, Affekt und Sprache sowie Natur- und Geisteswissenschaften ist. Mit dem „ganzen Menschen“, so soll gezeigt werden, tritt dabei ein prekäres Verhältnis von Soma und Psyche, Natur und Kultur auf den Plan, das Fragen der Darstellung, der Lektüre, der Erkenntnis – sowie von deren Kritik – nach sich zieht.

Die Anthropologie als Analytik des Menschen hat mit Sicherheit eine konstitutive Rolle im modernen Denken gespielt, weil wir zu einem guten Teil uns noch nicht davon gelöst haben. Sie war von dem Moment an notwendig geworden, in dem die Repräsentation die Kraft verloren hatte, für sich allein und in einer einzigen Bewegung das Spiel ihrer Synthesen und Analysen zu bestimmen. Diese Synthesen mussten woanders als in der Souveränität des 'Ich denke' gesichert werden. Sie mussten dort gesucht werden, wo genau jene Souveränität ihre Grenzen findet, das heißt: in der Endlichkeit des Menschen, die ebensowohl die des Bewußtseins wie die des lebenden, sprechenden und arbeitenden Individuums ist. Das hatte Kant bereits in seiner Logik formuliert, als er seiner traditionellen Trilogie eine letzte Fragestellung hinzufügte: die drei kritischen Fragen (1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?) sind auf eine vierte bezogen und gewissermaßen ihr in Rechnung gestellt: 'Was ist der Mensch?' (Michael Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übersetzt von Ulrich Köppen, Frankfurt a. M. 1974, S. 410.)

Es ist daher folgerichtig, dass sich die dem 18. Jahrhundert zugeschriebene Faszination für den "ganzen Menschen" nicht im ausgehenden 18. Jahrhundert erledigt. Das Projekt untersucht, wie am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl in der entstehenden Psychoanalyse und psychosomatischen Medizin als auch in der Dramenliteratur und Theatertheorie der Jahrhundertwende und des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts die Faszination für den "ganzen Menschen" erneut in den Fokus rückt. Damit kommt den Perioden um 1800 und um 1900 eine besondere Bedeutung innerhalb des Projektdesigns zu: Es soll untersucht werden, inwiefern hier das anthropologische Anliegen des Dramas/Theaters besondere Ausprägung erfährt, was nicht zufällig mit den Konjunkturen eines i.e.S. medizinischen Nachdenkens über Psychosomatik koinzidiert. Es ist daher folgerichtig, dass das lange 19. Jahrhundert und dessen Psychiatriegeschichte nicht expliziter Teil des Projektes sind; vielmehr werden mit den Perioden um 1800 und um 1900 jeweils Phasen des Umbruchs oder der Neuausrichtung untersucht, in denen sowohl Wissensinhalte als auch die Modi der Wissensgenese sowie deren disziplinäre Zuordnung radikal zur Debatte stehen.

 

Charcot

André Brouillet: Une leçon clinique à la Salpêtrière (1887)

 

Die Affinität von Ästhetik/Poetik und Medizin ist jedoch nicht nur historischer, sondern vor allem systematischer Natur: Psychosomatik hat es mit Darstellungslogiken zu tun, fragt nicht nur nach den Repräsentationen, sondern nach den wechselseitigen Konstruktionen und Lektüren der Sphären des Somatischen und des Psychischen. Die Figur der Schauspieler*in und die ihr eigenen Körperzeichen, so die Ausgangshypothese, stellen exemplarisch das Verhältnis von Soma und Psyche zur Debatte sowie das Dispositiv der Theateraufführung und seine Darstellungs- und Rezeptionssituation ein exemplarisches Modell bieten, das Verhältnis von Körper und Beobachtung, Affekt und Wissen zu reflektieren.

 

Erkenntnisziele: Aus theater- und kulturgeschichtlicher Perspektive geht es dem Projekt um die Faszination und Genealogie dieser „doppelnaturigen“ Psychosomatik; aus wissenstheoretischer Perspektive wird nach den disziplinären Gegenstandsbereichen und den transdisziplinären Modi affektiven und verkörperten Wissens gefragt; aus darstellungstheoretischer Perspektive geht es um den Mehrwert einer praxeologischen und materialen Aisthesis.

 

Gefördert mit einem PRIMA-Grant des Schweizerischen Nationalfonds
Laufzeit: 2/2019 – 1/2024
 
 

Weiterführende Informationen

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Kontakt

Prof. Dr. Sophie Witt

 

Deutsches Seminar

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Tel. +41 044 634 51 00

sophie.witt@ds.uzh.ch