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Das Projekt "Textualitäten - Theorie und Empirie" hat zum Ziel, einen empirisch fundierten Neuansatz zur Konzeption der "Textualitätsmerkmale" (de Beaugrande/Dressler) zu entwickeln. Ausgehend von der textlinguistischen Konzeption von Hausendorf und Kesselheim lässt sich die Zielsetzung des Projekts durch drei Leitgedanken charakterisieren: In theoretischer Hinsicht geht es darum, die veraltete Merkmalsliste durch eine Zusammenstellung von Textualitätsmerkmalen zu ersetzen, die dem inzwischen erreichten Stand textlinguistischer Forschung Rechnung trägt; in methodologischer Hinsicht geht es darum, die Textualitätsmerkmale auf systematische Weise an Textualitätshinweise zu binden, mit denen Textualität im Hinblick auf ihre relevanten Merkmale signalisiert wird; in empirischer Hinsicht geht es schliesslich darum, die Textualitätshinweise zu rekonstruieren, die für ein bestimmtes Textualitätsmerkmal charakteristisch sind, wobei sich die Rekonstruktion nicht auf sprachliche Textualitätshinweise beschränkt, sondern auch wahrnehmungsabhängige Hinweise aus der Lektüresituation und vertrautheitsabhängige Hinweise aus dem Lektürekontext mit einbezieht.
Innerhalb der ursprünglich beantragten und bewilligten Projektdauer, vom 01.10.2008 bis zum 30.09.2011, wurden plangemäss die sechs Merkmale für Textualität - Abgrenzbarkeit, intertextuelle Verknüpfbarkeit, thematische Zusammengehörigkeit, pragmatische Nützlichkeit, intertextuelle Beziehbarkeit und Musterhaftigkeit - detailliert untersucht und bearbeitet. Dabei wurden in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand sowohl der theoretische Forschungsstand zu den einzelnen Merkmalen aufgearbeitet als auch parallel dazu empirische Analysen verschiedener Textsorten durchgeführt. Dabei hat es sich als nützlich erwiesen, jeweils eine Textsorte bzw. ein Kommunikationsmedium pro Textualitätsmerkmal schwerpunktmässig zu untersuchen
Begrenzbarkeit: Flyer
Verknüpfbarkeit: Twitter
Thematische Zusammengehörigkeit: Seniorenforen
Pragmatische Nützlichkeit: Fahrkarten
Intertextuelle Beziehbarkeit: Gipfelbücher
Musterhaftigkeit: Ansichtskarten
Die Arbeiten zu den einzelnen Merkmalen werden als Kapitel (5 bis 9) in die zum Abschluss des Projektes geplante Publikation (Monographie mit dem Arbeitstitel Die Lesbarkeit des Textes. Textlinguistische Aspekte zu einer Konstitutionsbedingung schriftsprachlicher Kommunikation) einfliessen.
Im Folgenden werden die Arbeiten an den Textualitätsmerkmalen gebündelt als einzelne Milestones der Projektarbeit mit ihren wichtigsten Resultaten vorgestellt.
Zunächst wurde eine Bibliographie zum Themenbereich der Begrenzbarkeit erstellt und die Literatur gesichtet. Der so entstandene Überblick über die bereits geleisteten Beiträge zum Aspekt der Begrenzbarkeit (Abgrenzung nach aussen, Gliederung nach innen) wurde im Hinblick auf eine Systematik der Vorarbeiten zu Abgrenzungs- und Gliederungshinweisen theoretisch reflektiert und festgehalten. Im Anschluss an die theoretische Arbeit wurden, im Übergang zur Empirie, Re-Analysen zu in der Literatur vorhandenen Beispielen vorgenommen. Der Bucheinband hat sich dabei als eine Art Paradigma herausgestellt, anhand dessen das für die "Begrenzbarkeit" wichtige Phänomen der Wahrnehmbarkeit von Abgrenzungshinweisen vertiefend herausgearbeitet werden konnte. Im Rahmen der Korpusarbeit wurde schliesslich eine Textsorte ausgewählt ("Flyer") und systematisch in Bezug auf die darin enthaltenen Abgrenzungs- und Gliederungshinweise hin analysiert. "Flyer" sind bis heute textlinguistisch erst in Ansätzen untersucht worden. Sie können als charakteristisch für eine Textkultur ausserhalb des Buchdrucks gelten, die auf eine lange Tradition zurückblicken kann ("Flugschriften" der Frühen Neuzeit) und spezielle Formen der Abgrenzung und Gliederung hervorgebracht hat. Sie ergänzt insofern optimal die Ausführungen zum Bucheinband.
Bei dem Merkmal "Intratextuelle Verknüpfbarkeit" wurde der analytische Fokus auf die Neuen Medien gelegt. Im Zentrum der Untersuchung stand u.a. die Microblogging-Plattform "Twitter", die auf ihre Verknüpfungshinweise hin analysiert wurde. Diese Fokussierung versteht sich auch als Reflex auf den Forschungsstand: Im Bereich der Neuen Medien gelten Hyperlinks als neuartige Verknüpfungsmittel, die auch bereits vielfach in neueren textlinguistischen Arbeiten thematisiert worden sind. Die bisherige textlinguistische und medienlinguistische Auseinandersetzung mit Hyperlinks wurde kritisch diskutiert und anhand ausgewählter Beispiele (Hyperfiction, institutionelle Homepages, Online-Shops) analysiert. Dagegen hat die textlinguistische Aufarbeitung der im engeren Sinne textgrammatischen Verknüpfungshinweise ("Kohäsion") anhand der gängigen druckschriftlichen Textsorten aus den Printmedien inzwischen einen vergleichsweise weit entwickelten und konsolidierten Stand erreicht, so dass eine erneute Auseinandersetzung mit diesem Bereich verzichtbar schien.
Die Merkmale "Intratextuelle Verknüpfbarkeit" und "Thematische Zusammengehörigkeit" (vergleichbar mit dem bekannten Dualismus von "Kohäsion" und "Kohärenz") werden in der Literatur oft gemeinsam diskutiert. Auch in empirischer Hinsicht finden sich hier charakteristische Formenüberschneidungen. Trotzdem wurde auf eine - im 1. und 2. Zwischenbericht noch angekündigte - Zusammenführung beider Merkmale verzichtet (s. Anhang "Thematische Zusammengehörigkeit"): Bei der "Thematischen Zusammengehörigkeit" wurde ein eigenständiges Theoriekapitel erstellt, welches das Verhältnis zwischen "Kohärenz" und "Thema" reflektiert und darlegt, weshalb es notwendig ist, als Textualitätsmerkmal weniger das kognitive Moment kohärenter Zusammenhänge in den Fokus zu nehmen als vielmehr die textuellen dynamischen Prozesse (Themaeinführung/ -entwicklung etc.) einer zusammenhängenden Darstellung von Welt, die durch die Hinweise auf thematische Zusammengehörigkeit geleistet wird. In der empirischen Arbeit wurde wie bei der "Intratextuellen Verknüpfbarkeit" ein Beispiel aus den Neuen Medien gewählt und detailliert untersucht: elektronische Einträge aus einem "Seniorenforum" zum Thema "Alter(n)". Hinsichtlich der Präsentationsweise in der geplanten Abschlusspublikation wurde hier zum ersten Mal die Zusammenführung von theoretischem und empirischem Teil erprobt. Da sich diese als fruchtbar erwies und zudem die Lesefreundlichkeit unterstützt, sollen für die geplante Publikation die Kapitel in gleicher Weise - als eine theoretisch-empirische Verzahnung - umgeschrieben werden.
Seit der Pragmatischen Wende der 1970er Jahre ist die Textlinguistik sehr stark vom Begriff der Funktion geprägt worden. Das Merkmal der "Pragmatischen Nützlichkeit" wurde im Rahmen der Projektarbeit in der Phase der theoretischen Aufarbeitung des Forschungsstandes nicht nur auf die historische Entwicklung der Kategorie der "Textfunktion" hin untersucht, sondern besonders auch im Hinblick auf Dissonanzen zwischen verschiedenen Konzepten. Damit konnten die unterschiedlichen Ansätze, die heute noch in der Theorie zumeist mehr oder weniger unverbunden nebeneinander existieren, ausgelotet und im Hinblick auf ihren Beitrag zu unserem Konzept der pragmatischen Nützlichkeit diskutiert werden. Im Kern stehen sich bis heute die Weiterentwicklungen einerseits der Sprechaktklassifizierung von Austin durch Searle und andererseits die Weiterentwicklung des Bühlerschen Organonmodells in den Sprachfunktionen Jakobsons gegenüber. Ausserdem stellt sich die Frage, wie die Verteilung und Hierarchie der verschiedenen Funktionen bei der Analyse von Texten zu verstehen ist: Gibt es nur eine Grundfunktion oder handelt es sich um eine unterschiedlich verteilte Gewichtung? Hier bestätigten Reanalysen, dass die für das Projekt charakteristische Anlehnung der pragmatischen Nützlichkeit an Bühler und Jakobson, die ein hierarchisches Vorkommen der Funktionen mit einer die Texthandlung bestimmenden Grundfunktion annimmt, empirisch ausserordentlich fruchtbar ist, weil es die Frage nach der Hierarchie in den Gegenstandsbereich selbst verlagert. Dies gilt insbesondere für Textsorten (wie Fahrkarten), die auf den ersten Blick in ihrer Funktion völlig eindeutig sind. Diese alltagsintuitive Evidenz konnte in der empirischen Analyse der Fahrkarten mit dem Neuansatz textueller Grundfunktionen zugunsten der Gleichzeitigkeit einer Vielfalt von pragmatischen Nützlichkeiten aufgehoben werden, um soauf die vielschichtige pragmatische Nützlichkeit der Fahrkarten und die Hierarchie zwischen diesen Nützilchkeiten aufmerksam zu machen.
Die Arbeit zur "Intertextuellen Beziehbarkeit [Intertextualität]" beinhaltete die empirische Analyse von Einträgen in Gipfelbüchern, welche sich als spezielle "Textsammlungen" besonders für gründliche intertextuelle Analysen anboten, weil in den Einträgen in diesen Büchern sehr häufig sehr unterschiedlich markierte und sehr unterschiedlich konturierte Text-Text- und Text-Textwelt-Hinweise vorkommen. Es handelt sich um eine gleichsam 'wilde' Intertextualität, die nicht durch die Musterhaftigkeit eines stark normierten Text-Textwelt-Bezuges eingeschränkt ist (wie das z.B. bei Intertextualitätshinweisen in Rechts- oder Wissenschaftstexten der Fall ist). Es konnten entsprechend aufschlussreiche Bezüge zwischen Text und Text, Text und Textwelt, aber auch Text und Textmuster festgestellt und untersucht werden. Der theoretische Forschungsüberblick befasst sich nicht nur systematisch mit der bisherigen textlinguistischen Beschäftigung mit dem Phänomen "Intertextualität", sondern versucht anhand einer Gegenüberstellung von Begriffspaaren (wie "referentielle vs. typologische Intertextualität" oder "Extensive vs. intensive Untersuchung von Intertextualität") die unterschiedlichen Auffassungen auszuloten, welche in der Theorie zu finden sind. Damit ist eine Standortbestimmung und Profilierung unserer Neukonzeption möglich geworden.
Das Merkmal der Musterhaftigkeit wurde - im Gegensatz zum ursprünglichen Plan in der Projektskizze - aufgrund der Ergebnisse und Erfahrungen der vorausgegangenen Analysen gezielt als letztes der Merkmale betrachtet. Mit Fortschreiten der Arbeiten wurde immer deutlicher, dass die Musterhaftigkeit auf den anderen Merkmalen aufliegt, d.h. dass sich die Textsortenzugehörigkeit grundlegend in der musterhaften Ausprägung der anderen Merkmale zeigt. Daher lag es nahe, diese Betrachtung erst im Anschluss an die Untersuchung aller anderen Merkmale vorzunehmen. Als Korpus für die Analysen zur Musterhaftigkeit boten sich (Urlaubs-)Ansichtskarten an, da diese ihre Musterhaftigkeit (auf mehreren) Ebenen signalisieren und deutlich machen und da am Lehrstuhl Hausendorf ein sehr umfangreiches Korpus von Ansichtskarten vorliegt.
Es wurde im Projektverlauf eine anhand der Textualitätsmerkmale, -hinweise und -quellen verschlagwortete Bibliographie erstellt und in der Literaturdatenbank "Citavi" archiviert. Diese Bibliographie umfasst z.Zt. 660 Einträge. Damit ist eine aktuelle textlinguistische Forschungsbibliographie entstanden, die unmittelbar auf die Systematik der Textualitätshinweise beziehbar und abfragbar ist.
Im Projekt konnte der Neuansatz zur Konzeption der "Textualitätsmerkmale", wie er von Hausendorf/Kesselheim (2008) in einer stark auf die Aspekte der praktischen Anwendung hin angelegten Darstellung präsentiert worden ist, theoretisch, methodologisch und empirisch profiliert und weiter entwickelt werden.
So ist mit der Aufarbeitung des Forschungsstandes zu allen sechs Merkmalen ein umfassender aktueller Forschungsbericht zu allen sechs Textualitätsmerkmalen entstanden, der die bis dato nur implizit vorliegende Argumentation für die Neukonzeption in systematischer Weise expliziert. Die integrierende Herangehensweise sowie die neue Sortierung der Merkmale mit der Musterhaftigkeit als letztes und integratives Merkmal spiegeln die symbiotische Wechselwirkung sowohl zwischen den einzelnen Merkmalen als auch zwischen theoretischen Überlegungen und empirischer Anwendung. Aus den im projektierten Zeitraum geleisteten empirischen Analysen wie auch aus der intensiven theoretischen Auseinandersetzung geht klar hervor, dass sich diese Neukonzeption für den Bereich der Textualitätshinweise und -merkmale bewährt hat. Dass das Textualitätsmodell durchaus auch für weitere analysepraktische Anwendungen verwendet werden kann, zeigt die erfolgreiche Umsetzung des Modells für die Beurteilung von Textqualität (s.u. "Besondere Ereignisse"). Neben den Hinweisen und Merkmalen konnte auch das Konzept der Textualitätsquellen - Wahrnehmbarkeit, Sprachlichkeit, Vertrautheit -, aus denen sich die Hinweise speisen, weiter entwickelt werden. Aufgrund der intensiven Auseinandersetzung mit den Textualitätsmerkmalen und -hinweisen ergab sich hier die Notwenigkeit, die Quellen noch gründlicher in ihren Zusammenhängen und in ihrem Zusammenwirken zu betrachten. Während die Quelle der Wahrnehmbarkeit vor allem empirisch sehr viel analytischen Nachholbedarf für eine textlinguistische Analyse provoziert, stellt die Quelle der Vertrautheit in theoretischer und methodologischer Hinsicht eine der vielleicht grössten Herausforderungen für die Weiterentwciklung der Textlinguistik im Spannungsfeld von kognitiver vs. kommunikativer theoretischer Orientierung dar. Dies war ein weiterer Grund für die Beantragung der Projektverlängerung. Dies insbesondere, da die Verschränkungen zwischen Hinweisen/Merkmalen und Quellen grundlegende Einsichten liefern bezüglich der Bedingungen des schriftsprachlichen Kommunizierens, bezüglich des textlinguistischen Forschungsdesiderates von Sinnlich-Wahrnehmbarem und bezüglich der Integration von (vermeintlich 'textexternen') Inferenzen. Der Forschungsplan für die Verlängerung sieht daher eine eigene intensivierte Phase für jede der drei Textualitätsquellen Sprachlichkeit, Wahrnehmbarkeit und Vertrautheit vor. Innerhalb dieser Phasen kann auf die in der Projektarbeit geleisteten empirischen Arbeiten zurückgegriffen werden. Die Projektdauer verläuft neu bis Ende November 2012.