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Die altnordische Schreib- und Erzählkultur ist im Kontext des europäischen Mittelalters als einzigartig zu betrachten, da sie sich - in quasi-mittelalterlicher Ausprägung - bis in die Frühe Neuzeit, ja sogar bis in die frühe Moderne hinein erstreckt. Im Gegensatz zur Handschriftenkultur im übrigen Europa brach auf Island die Handschriften-produktion, die eine erste Hochblüte zwischen dem späten 13. und dem frühen 16. Jahrhundert erlebte, nicht durch die im Zuge der Reformation sich verbreitende Buchdruckkunst ab. Zwar gibt es eine merkliche Unterbrechung in der aufgrund der Reformationswirren auf Island sehr turbulenten zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, doch erlebte die Handschriftenproduktion auf Island ab dem frühen 17. Jahrhundert eine regelrechte Renaissance. Insbesondere aus der Zeit der "Renaissance der altnordischen Handschriftenproduktion" zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert, als Papier als Textträger erschwinglich wurde und der serielle Buchdruck die Vervielfältigung und Distribution von Texten erleichterte, sind viele altnordische Prosatexte überliefert, deren mittelalterliche Vorlagen nicht mehr vorhanden sind. Aus erinnerungstheoretischer Perspektive stellt sich dabei die Frage, welches kulturelle, literarisch verarbeitete (Text-)Wissen in diesen frühneuzeitlichen Handschriften überliefert und erinnert wird. Insbesondere bei den Textträgern aus der Zeit der "Renaissance der altnordischen Handschriftenproduktion" ist erkennbar, dass intra- und aussertextuelle Erinnerungen, Gattungszuweisungen und Rezeptionsan-weisungen in paratextuellen Zusätzen vermittelt werden.
Das vorliegende Projekt setzt sich zum Ziel, erstmalig mittels erinnerungs-theoretischer Ansätze und Theorien zum Paratext, die spezifisch altnordisch-isländische Gedächtniskultur in ihrer historischen Breite hinsichtlich der literarischen Ausformung von Erinnerung in den Paratexten mittelalterlicher und insbesondere frühneuzeitlicher Handschriften zu untersuchen. Dadurch soll einerseits ein Beitrag an das Verständnis des kulturellen Erbes der altnordischen Literaturproduktion, dem einzigartigen Schreibermilieu in der Frühen Neuzeit auf Island und der damit verbundenen kulturellen Erinnerung und kollektiven Identitätsstiftung geleistet werden. Andererseits werden durch die bisher nicht vorgenommene Verschränkung von Erinnerungstheorien und Theorien zum Paratext und einer aus dem Untersuchungsmaterial abgeleiteten, eigenständigen Theorie zur Gedächtniskultur im Paratext beide Forschungsfelder mit neuen theoretischen und methodologischen Impulsen versehen, die auch auf andere Fachgebiete anwendbar sein werden.