Navigation auf uzh.ch
In welcher Lebensphase man sich befindet, wie alt man ist, bestimmt maßgeblich Vorgänge der Identitätsbildung. Auf der Basis einer genuin zeitlichen Wahrnehmung von 'Leben' als Einheit aus Vergangenem, Gegenwärtigem und Künftigem konstituiert sich Ich-Identität. Gegenüber der Moderne und den Problematiken ihrer demographisch alternden Gesellschaft lässt sich für das Mittelalter eine ganze Bandbreite spezifischer Altersidentitäten beschreiben. Vor allem in literarischen, insbesondere lyrischen Texten ist ein facettenreiches Spiel der Sprecherinstanz mit Aspekten des Alter(n)s und dessen doppelt binärer Relation zur 'Gegenkategorie' (?) Jugend zu beobachten. Denn hier besteht eine Spannung zwischen der 'biographischen' Eigenzeit der Sprechinstanz ('Zeit des Ich') und der kulturhistorisch konnotierten Zeit ('Zeit der Anderen'), die text- und kontextabhängig je neue Konstellationen von Ich-Inszenierung hervorbringt. Das Projekt analysiert sie auf der Basis tradierter Alterstopik, wobei es gerade um die vielfältigen Funktionalisierungen der bekannten Alterstopoi gehen soll: Was leisten diese im jeweiligen Zusammenhang? Während die ältere Forschung hier Fragen von Werkchronologie und Dichterbiographie verhandelte, interessieren mich Aspekte des Poetologischen (Altersrollen, 'Eigenzeit' der Minne, Minnesang als toposbasierte Kombinationskunst), des Religiösen (Zeit und Ewigkeit), der vormodernen 'Subjektivität' und Konstruktion von Geschlecht. Im Fokus stehen damit zugleich die medialen und materialen Spezifika der Gattungssysteme Minnesang und Sangspruch, Fragen von Performanz und Überlieferungskontexten.
Die Turteltaube ist treu über den Tod hinaus. Stirbt ihr einmal gewählter Partner, sitzt sie nurmehr trauernd auf dem dürren Ast. In der christlichen Vorstellung des Mittelalters wird sie zum Sinnbild der Witwe, die ihr Leben dem toten Ehemann verschreibt. Von historischer Seite ist die Wirkmächtigkeit dieser weiblichen 'Lebensform' innerhalb der mittelalterlichen Bußkultur gezeigt worden, die eine Hierarchie von Ehefrauen, Witwen und Jungfrauen etabliert (Jussen 2000). Die Relevanz dieser Erkenntnisse für das Verständnis literarischer Texte ist hingegen bislang kaum gesehen. Das Projekt zielt deshalb auf eine gattungsübergreifende Neu-Interpretation der zahlreichen (tatsächlichen wie vermeintlichen) Witwenfiguren in mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur: Das Rollenmodell der christlichen Witwe bietet mit seinen sozialhistorischen (Eherecht, Status der Frau, Politik etc.), theologischen (Bußpraxis, religiöse Lebensformen) und literarischen (Narrativ, z.B. die 'Witwe von Ephesus') Implikationen die Möglichkeit einer kulturhistorisch kontextualisierenden und damit methodisch behutsamen gendersensiblen Relektüre nicht nur der im Fach kanonischen Texte. Zugleich leistet das Projekt damit einen Beitrag zur historischen Frauenforschung.
Laufzeit: 2007-2010
Finanzierung: DFG Graduiertenkolleg (2007-2009), Graduiertenschule der Phil. Fak. der Univ. Erlangen-Nürnberg (2009-2010), Publikationsfinanzierung VG Wort
Abstract: Unerhörtes Erzählen situiert sich zwischen Recht und Literatur. Die außergewöhnlichen 'Fallverhandlungen' des spätmittelalterlichen Autors Heinrich Kaufringer sind ein frühes Phänomen literarischer Kasuistik. Die vorliegende Arbeit beleuchtet die kontrovers diskutierte Frage nach dem 'Sinn' seiner als 'grotesk' bezeichneten Texte neu. Sie nimmt die Erzählpoetik Kaufringers von zwei Seiten in den Blick: Komparatistische Modellanalysen präsentieren ausgewählte Mären im Feld europäischer Novellistik (lateinische Exemplarik bis Boccaccio), zugleich wird eine historische Kontextualisierung mit rhetorischen und juridischen Traditionen der Antike und des Mittelalters vorgenommen. Dabei zeigt sich, dass Zuspitzung und Irritation Effekte eines an Problempotentialen besonders interessierten Erzählens sind. Der kasuistische Zugriff auf die materiae lässt Kaufringers Erzählungen als Argumentationsspiele verständlich werden, die Meinungen und Standpunkte verhandeln, wobei der diskursive Vorgang eine Lust am Erzählen generiert, der es auf die Verbindlichkeit einer Aussage nicht mehr ankommt. Die Interferenzen zwischen juristischem und literarischem Diskurs sind es, die ein solches 'Erzählen von Sonderfällen' charakterisieren und das Erzählen selbst als Sonderfall spezifisch machen.
Laufzeit: 2012-2022
Finanzierung: Forschungskredit Postdoc der UZH (2016-2019), Laufbahnförderung des Deutschen Seminars UZH (2021)
Abstract: Das Projekt untersucht Zeit und Zeitwahrnehmung in erzählenden Texten des Hochmittelalters ('um 1200'), sowohl 'weltlichen' als auch 'geistlichen'. Eine konsequent historisch angelegte narratologische Untersuchung von Zeitlichkeit, die kulturhistorisch spezifische Semantiken berücksichtigt, ist für mittelalterliche Literatur ein Desiderat. Es ist ein gern zitiertes Fehlurteil, dass mittelalterliches Erzählen eher einsträngig als mehrsträngig angelegt sei. Der Fokus auf Synchronisierungstechniken wird in dieser Arbeit zum Schlüssel für intrikate Verschränkungen immanenter Zeitlichkeit mit transzendenter Ewigkeit in den wiederkehrenden Konstellationen von Gleichzeitigkeit, Iteration und Doppelung. Sie werden in vier Analysekapiteln untersucht, in jeweils anderen komparatistischen Textgruppierungen. Behandelt werden die Ausformungen des Alexius- und Gregoriusstoffes (Kap. II), geistliche Erzählungen biblischer und apokrypher Stoffe von Konrad von Fußesbrunnen und Konrad von Heimesfurt (Kap. III), Chrétiens und Hartmanns 'Erec'-Romane (Kap. IV) und Wolframs 'Parzival' (Kap. V).